Mahner mit Hang zur Egomanie

„Der glaubt doch in seinem Größenwahn, dass die Plätze in Köln ihm gehören“ „Herrmann ist eine bedeutende Persön- lichkeit mit stark neurotischen Zügen“

AUS KÖLN PASCAL BEUCKER

Die Szene wirkt bizarr. Unvermittelt unterbricht Walter Herrmann das Gespräch. Sein Blick schweift über die Domplatte hinüber zu einem junge Straßenkünstler. „Der ist sehr laut“, bemerkt Herrmann missbilligend. Vor allem jedoch führt nach seinem Befinden der feuerschluckende Einradfahrer seine Kunststückchen viel zu nah der „Klagemauer“ vor. Das kann Herrmann nicht hinnehmen. „Da muss ich jetzt die Polizei rufen“, sagt er. Dann ruft er die Polizei. Schließlich geht es ja um sein Lebenswerk: Tagtäglich von 11 bis 20 Uhr steht Herrmann mit seiner „Kölner Klagemauer“ unweit des Domes. Und niemand soll in dieser Zeit die Aufmerksamkeit von seiner „urdemokratischen Veranstaltung“ ablenken, findet der 68-Jährige. Auch keine Straßenkünstler.

Kommt die Sprache auf Walter Herrmann, verfinstert sich umgehend die Miene von Franco Clemens. „Der glaubt in seinem Größenwahn doch inzwischen, dass die Plätze in Köln ihm gehören“, echauffiert sich der Sozialarbeiter. Auch der als „Don Franco“ bekannte Straßenmusiker und seine „Magic Street Voices“ hatten kürzlich Ärger mit dem eigenwilligen Politaktivisten. Herrmann habe sich von deren Musik in „amerikanischer Sprache“ belästigt gefühlt und sie deshalb in unflätiger Form aufgefordert, das Umfeld seiner „Mahnwache“ zu räumen, berichtet Clemens. Es sei an der Zeit, endlich dem merkwürdigen Treiben des Trägers des Aachener Friedenspreises etwas entgegenzusetzen, findet er.

An Walter Herrmann schieden sich schon immer die Geister. Für die einen ist er der „Rebell von der Domplatte“, ein unermüdlicher Kämpfer für die gute Sache. Für die anderen schlichtweg ein Plagegeist. Inzwischen jedoch stimmen die alten Schlachtordnungen nicht mehr. Früher waren die Frontlinien übersichtlich: Hier Walter Herrmann, dort die Obrigkeit aus Staat und Kirche. Es war ein langer, harter Kampf gegen die Stadtoberen, die Polizei, das Domkapitel oder den konservativen Haus- und Grundbesitzerverein, denen die „Klagemauer für Frieden“ ein Dorn im Auge war. In dieser Auseinandersetzung fiel es nicht schwer, Partei für Herrmann zu ergreifen. Aber die Zeiten ändern sich.

Die Ursprünge der „Klagemauer“ reichen in die späten Achtzigerjahre zurück. Nach einem Streit mit seinem Vermieter wurde Herrmann seinerzeit aus seiner Wohnung zwangsgeräumt und fand keine neue Bleibe. „Ich habe damals alles verloren, was ich hatte“, erzählt er verbittert. Aus Protest gegen Wohnungsnot und Mietwucher zog er daraufhin gemeinsam mit anderen Obdachlosen und „bewaffnet“ mit einigen alten Möbeln in die Kölner Schildergasse. Dort richtete sich die bunte Gruppe an einem Brunnen in der Einkaufsmeile häuslich ein. Um den herum spannte Herrmann Wäscheleinen und legte davor 19 mal 28 Zentimeter große Kartontafeln sowie ein paar Filzstifte. Die Passanten forderte er auf, ihre Nöte und Sorgen auf die bereit gestellten Kärtchen zu schreiben. Die hängte er dann an die Leinen. Sechzehn Mal räumten Ordnungsamt und Polizei das Polithappening ab. Immer wieder entstand es neu.

Mit Beginn des ersten Golfkriegs zog Herrmann 1991 mit seiner „Klagemauer“ auf die Domplatte um. Am Südturm des Doms aufgebaut, wuchs sie gegen alle Widerstände – bis hin zu rechtsradikalen Überfällen – zu einer Manifestation für Frieden, Völkerverständigung und soziale Gerechtigkeit. Die Anzahl derjenigen, die eine persönliche Botschaft auf eine der Pappkärtchen schrieben, geht in die Zehntausende. Ganze Schulklassen verewigten sich hier ebenso wie der Dalai Lama, Ernesto Cardenal, Lew Kopelew oder der kürzlich verstorbene Obdachlosenpriester Abbé Pierre.

Für die Stadt und das Domkapitel blieb das politische Aktionskunstwerk indes ein Ärgernis. Nach langem juristischen Tauziehen wurde die große „Klagemauer“ 1996 polizeilich geräumt. Zwei Jahre später erhielt Herrmann den Aachener Friedenspreis. Seine „Klagemauer“ sei „vor allem auch ein Forum der unterdrückten, verelendeten und an den Rand der Gesellschaft gedrängten Menschen“, hieß es in der Laudatio. „Von vielen Bürgern und Besuchern der Stadt werden Dom und Klagemauer als eine Einheit verstanden.“

Heute gibt es von ihr nur noch eine kleine mobile Variante, die von Herrmann täglich auf- und abgebaut wird. Mit den Behörden hat er sich arrangiert. Rechtlich umstritten, aber politisch klug duldet die Polizei die „Dauerdemonstration“. Die etwa 20 Quadratmeter große Installation besteht dabei aus drei Informationswänden, einem Informationsmast und einem Tisch, auf dem eine Unterschriftenliste ausgelegt ist. Zwei Stellwände sind mit Bildern und dazugehörigen Berichten über mutmaßliche israelische Menschenrechtsverletzungen gestaltet. Die dritte Wand ist mit einer Leine versehen, an denen Passanten ihre Papptafeln mit eigenen Stellungnahmen anbringen können.

Auch inhaltlich ist die heutige „Klagemauer“ stark reduziert. Seit einiger Zeit beschränkt sie sich auf das Anprangern Israels. Denn nach Ansicht Herrmanns betreibt der jüdische Staat „eine Apartheidpolitik, die viel schlimmer ist, als sie in Südafrika war“. Die Weltgemeinschaft jedoch schweige „zu all diesen Verbrechen“, meint er. Er hingegen wolle nicht schweigen.

Nur wenn die Sprache auf den Terror palästinensischer Selbstmordattentäter kommt, wird er wortkarg. „Die Israelis leiden nicht in der gleichen Weise“, lautet sein knapper Bescheid. Damit ist dieses Thema für ihn erledigt. Für die Kölner Synagogen-Gemeinde geben die „Palästina-Wand“ und die dort gezeigten Bilder und Textbeiträge „die politische Situation verzerrt und ideologisch verlogen wieder“. Sie spricht von unerträglichen „Hetzparolen gegen Israel“.

Seit Mitte der Sechzigerjahre lebt Herrmann in Köln. Ursprünglich stammt er aus Bayern. Geboren wurde er 1939 in Würzburg. Er wuchs in „bäuerlichen Verhältnissen“ auf, erzählt er. Ein Acker seiner Familie habe „an die Burg von Florian Geyer“ gegrenzt. Den 1525 ermordeten legendären Anführer des „Schwarze Haufens“, den der Bauernkriegshistoriker Wilhelm Zimmermann als „den schönsten Helden des ganzes Kampfes“ bezeichnete, benennt Herrmann als einen seiner frühen Vorbilder – neben dem Würzburger Bildhauer und Bürgermeister Tilman Riemenschneider, der auch den Bauernaufstand unterstützt hatte. Später hätten ihn dann Mahatma Gandhi und Martin Luther King „inspiriert“, so Herrmann.

Nach seiner Schulzeit studierte er zunächst an der Universität Würzburg und ging dann in den Schuldienst. Fünf Jahre unterrichtete Herrmann an einer Hauptschule. Doch das war nicht das Leben, das er führen wollte. Infiziert vom Geist der studentischen Rebellion war ihm seine unterfränkische Heimat zu eng geworden. Er wechselte zum Psychologiestudium nach Köln.

Rainer Kippe von der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim kennt ihn seit dieser Zeit. „Der Walter ist schon sehr speziell“, sagt der einstige SDS-Aktivist. Der seinerzeit in der studentischen Basisgruppe Psychologie aktive Herrmann sei „ein Mann der ersten Stunde“ gewesen. Als aus der „Heimkampagne“ des SDS 1969 ein Projekt für weggelaufene Heimzöglinge entstand, sei er zur Stelle gewesen, erinnert sich Kippe.

„Wir haben das als gesellschaftliches Projekt angesehen“, erzählt Herrmann über die „Sozialpädagogische Sondermaßnahme Köln“, kurz SSK. Die betrieb in mehreren Häusern Wohngemeinschaften mit jugendlichen Trebegängern, aus ihr entstand später die Sozialistische Selbsthilfe Köln. Aber da war Herrmann schon nicht mehr dabei. Er hatte sich mit dem Rest der Gruppe überworfen. Herrmann sei eben schon immer „absolut rechthaberisch“ gewesen, so Kippe. Einmal von etwas überzeugt, sei es nahezu unmöglich, ihn wieder davon abzubringen. „Der Walter ist ein Eiferer.“ Das mache eine Zusammenarbeit bisweilen schwierig. Kippe charakterisiert ihn als eine „bedeutende Persönlichkeit mit stark neurotischen Zügen“.

„Ich wollte frei sein für politische Aktionen“, erklärt demgegenüber Herrmann seinen SSK-Ausstieg. In den Siebzigerjahren war er dann in der alternativen Sozialarbeiterbewegung aktiv, eine Zeit lang auch bei den Jungdemokraten. Aber sein Engagement bei dem damaligen radikaldemokratischen Jugendverband der FDP blieb nur eine Episode. „Ich bin keiner, der sich in Organisationen wohl fühlt“, sagt Herrmann. „Ich kann keinen Chef über mir haben und will auch keinen unter mir haben.“

Seine „unwahrscheinliche Konsequenz“ fasziniert Kippe bis heute an Herrmann. Mit seinem geradezu überbordenden Gerechtigkeitssinn und seiner Unbeugsamkeit bleibe er „unglaublich zäh und hartnäckig an einer Sache dran“. Herrmann sei ein „ganz wertvoller Mensch“, gerät Kippe geradezu ins Schwärmen: „Der Walter hätte es verdient, Kölns nächster alternativer Ehrenbürger zu werden.“

Franco Clemens ist da ganz anderer Auffassung. Frage man heute frühere Unterstützer und Fürsprecher nach Herrmann, werde man nur noch „viel resigniertes Seufzen und Schulterzucken ernten, auch der eine oder andere Finger wird gegen die Stirn getippt, den meisten ist das Thema eher unangenehm“, berichtet er. Er fordert inzwischen von den Behörden, Herrmann für seine „Klagemauer“ auf der Domplatte die Auflage zu machen, nicht weiter Straßenkünstler zu stören. Oder aber er sollte gezwungen sein, alle 20 Minuten den Platz zu wechseln. „Das müssen wir Straßenkünstler ja auch.“