Monsterboxen und Mutationen

LATIN BASS Kolumbiens musikalischer Exportschlager, die Cumbia, wird gerade durch den Fleischwolf gedreht und als urbaner Dancefloor-Stil neu erfunden

VON ZONYA DENGI

Kolumbien wird in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht bis heute von weißen Eliten beherrscht. In der Musik dagegen sind die afrikanischen Einflüsse unüberhörbar: etwa in der Cumbia, die auf Rhythmen aus der Sklavenzeit gründet, die durch indigene Einflüsse und europäische Instrumente wie Gitarre und Akkordeon angereichert wurden. Sie ist der größte musikalische Exportschlager Kolumbiens und erlebt gerade ihren zweiten oder dritten Frühling.

Eine junge Generation von Beatbastlern, DJs und Band-Kollektiven ist in den letzten Jahren mit Erfolg dabei, das Genre aus seiner ursprünglichen Umgebung der Dorffeste und Armenviertel herauszulösen, mit moderner Elektronik durch den Fleischwolf zu drehen und in den Pop-Circuit einzuspeisen. Bands wie Systema Solar, Choc Quip Town und La 33 verbinden die Cumbia mit urbanen Lyrics und Sounds zum tropischen Barrio-Underground. Mit Witz und Ironie sprechen sie dabei auch Themen wie die Kluft zwischen Arm und Reich, den Machismo, Armut und Gewalt an.

Die „Pico“ ist die kolumbianische Variante der Sound Systems jamaikanischer Art: mobile und bunt bemalte Boxentürme, die Partyzentrale, Treffpunkt und Nachbarschaftsradio zugleich sind. Die siebenköpfige Band Systema Solar von der kolumbianischen Karibikküste beamt die Pico-Kultur ins digitale Zeitalter. Mit spacigen Astronautenanzügen und visuellen Effekten werfen sie bei ihren Auftritten alle Vorstellungen von „authentischer Latino-Kultur“ über den Haufen. In ihrem Hit „Ya Verás“ gleitet eine melodische Old-School-Cumbia elegant in einen Raggamuffin-Part über, im pumpenden Track „Bienvenidos“ verkünden sie eine sarkastische Willkommensbotschaft: Du bekommst kein Visum für ein anderes Land, keine Bank gibt dir noch Kredit, du bist pleite? Dann bleib doch hier in Kolumbien!

Gerne in Kolumbien ist auch der Wahlberliner Steen Thorsson. Zusammen mit seinem Kumpel Lukasz Tomaszewski gründete er vor fünf Jahren das DJ-Kollektiv La Chusma, mit dem sie regelmäßige Latin-Partys beschallten. Jüngst gründeten sie eine eigene Plattenfirma, mit der sie nun auch ein Album von Systema Solar vertreiben.

Für das Münchner Trikont-Label hat Thorsson jetzt den Sampler „Afritanga“ zusammengestellt, der zum Streifzug durch die diversen Regionen dieses südafrikanischen Riesenstaats einlädt, der an die Karibik und den Pazifik grenzt und sich bis zum Amazonasbecken erstreckt. Cumbia, Son und Salsa, aber auch lokale Genres wie Vallenato, Porro oder Champeta vermengen sich dabei mit HipHop, House und Techno, Reggaeton oder psychedelischem Funkrock zur unwiderstehlichen Geräuschkulisse. Dazwischen geben sich auf „Afritanga“ aber auch altgediente Veteranen der kolumbianischen Folklore wie Alfonso Córdoba die Ehre.

Der Cumbia-Kult treibt jedoch längst in ganz Lateinamerika Blüten. Im Norden des Kontinents schnipseln mexikanische Produzenten wie Toy Selectah aus Monterrey mal Texmex, mal HipHop mit Polizeisirenen und Industrial-Beats unter mutierte Cumbia-Rhythmen, die mit der gleichnamigen Volksmusik nur noch wenig zu tun haben. Ganz im Süden hat sich eine Spielart namens Cumbia Digital herausgebildet: die Rhythmen der kolumbianischen Folklore bilden nur noch das Gerüst für pulsierende Elektro-Tracks, die sich irgendwo zwischen Baile Funk, Italo-Disco und anderen Dancefloor-Stilen einreihen.

Das Gravitationszentrum dieser Bewegung bildet das argentinische Underground-Label ZZK Records mit Sitz in Buenos Aires. Zu dessen Galionsfiguren zählen die Frikstailers: zwei DJs und Produzenten, die sich hinter neonfarbenen, grellbunten Perücken, überdimensionierten Brillen und wechselnden Pseudonymen verstecken und ihre Cumbia-Collagen mit tropischem Techno, hypnotischem Minimal Dub, Mickymaus-Stimmen und hektischen Videoclip-Effekten aufmischen. Ob man das Ergebnis nun Cumbia Electrónico, Tecno Cumbia oder Nu Cumbia nennt, ist zweitrangig. Entscheidend ist, dass diese Bewegung inzwischen, über Internet und digitales File-Sharing, längst auch in die USA und bis nach Europa und Australien ausstrahlt.

■ Systema Solar (Chusma Records). Compilations: Cumbia Bestial (Chusma Records). Afritanga: The Sound of Afrokolombia (Trikont)