Das Manifest der Physiker

Heute vor 50 Jahren verdammten Nuklearforscher in der „Göttinger Erklärung“ den Wunsch der Bundesregierung Adenauer nach eigenen Atomwaffen für die Bundesrepublik – und befürworteten die zivile Nutzung der Atomkraft

Die Bundeswehr war kaum gegründet, die Bundesrepublik gerade in die Nato aufgenommen, da forderten Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) und Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß (CSU) Atomwaffen für die westdeutschen Streitkräfte. Beschafft werden sollten nur „taktische“, also kleinere Bomben, erklärte Adenauer am 12. April 1957: „Nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie.“

Führende Kernphysiker waren anderer Ansicht: Carl Friedrich von Weizsäcker, der Bruder des späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, trommelte seine Kollegen zusammen und verfasste den Entwurf für ein Manifest. 18 Wissenschaftler, darunter mehrere Nobelpreisträger, unterzeichneten – viele von ihnen waren während des „Dritten Reichs“ im so genannten „Uran-Verein“ an der Atomforschung beteiligt gewesen. Über das Büro von Otto Hahn ging der Appell an die Redaktionen – als „Göttinger Erklärung“, obwohl damals nur vier Beteiligte auch in Göttingen forschten.

Die Akademiker formulierten ihre „tiefe Sorge“ und erklärten, dass auch taktische Atomwaffen die „zerstörende Wirkung normaler Atombomben“ hätten. „Klein“ seien diese Waffen auch nur im Vergleich zu den „strategischen“ Bomben. Zugleich sprachen sich die Unterzeichner ausdrücklich für die friedliche Nutzung der Atomenergie aus.

Die „Göttinger Erklärung“ erzielte in Deutschland gewaltige Resonanz und stieß auch weltweit auf ein großes Echo. Sie hatte Signalwirkung für die „Kampf dem Atomtod“-Bewegung und beeinflusste erste zögerliche Abrüstungsdebatten zwischen den Großmächten. Von der Bundesregierung kam zunächst der Vorwurf, die Physiker seien inkompetent und betrieben Vaterlandsverrat. Weil aber zwei Drittel der Bevölkerung mit dem Appell übereinstimmten und Adenauer seine Wiederwahl-Chancen gefährdet sah, lenkte er ein: Über eigene Atomwaffen verfügt die Bundeswehr bis heute nicht.

In Göttingen selbst blieben Reaktionen weitgehend aus. Weder Rat noch Verwaltungsausschuss nahmen zu dem Manifest Stellung, es kam zu keiner öffentlichen Kundgebung. Wie bereits 120 Jahre vorher bei den „Göttinger Sieben“, die gegen die Suspendierung der Verfassung durch König Ernst August rebelliert hatten, zeigte sich die Stadt seltsam unberührt vom universitären Protest, der ihren Namen in aller Welt bekannt machte. Immerhin: Die Universität richtet heute eine Gedenkveranstaltung „50 Jahre Göttinger Erklärung“ aus.

Politisches Engagement von Forschern und insbesondere von Naturwissenschaftlern ist seit der „Göttinger Erklärung“ selbstverständlicher geworden. Sie trug auch dazu bei, dass das auf angeblicher Wertfreiheit basierende Image dieser Disziplinen zu bröckeln begann. Kritische Wissenschaftler-Initiativen haben mit ihren Analysen immer wieder viel öffentliche Wirkung erzielt – die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW erhielt für ihr Engagement 1985 sogar den Friedensnobelpreis. REIMAR PAUL