Wem die Stunde schlägt

RADSPORT Heute möchte Jens Voigt, 43, den Stundenweltrekord auf einer Bahn in der Schweiz brechen. Die Gelegenheit ist günstig wie nie – dank einer Regeländerung

■ Weltrekord

1942 Fausto Coppi (ITA)  45,798 km 1956 Jacq. Anquetil (FRA)  46,159 km 1956 Ercole Baldini (ITA)  46,394 km 1957 Roger Rivière (FRA)  46,923 km 1959 Roger Rivière  47,347 km 1967 Ferdi. Bracke (BEL)  48,093 km 1968 Ole Ritter (DEN)  48,653 km 1972 Eddy Merckx (BEL)  49,431 km 2000 Chris Boardman (GB)  49,441 km 2005 Ondrej Sosenka (TCH)  49,700 km

■ Weltbestleistung

1984 Franc. Moser (ITA)  50,808 km 1984 Francesco Moser  51,151 km 1993 Graeme Obree (GB)  51,596 km 1993 Chris Boardman (GB)  52,270 km 1994 Graeme Obree  52,713 km 1994 M. Induráin (SPA)  53,040 km 1994 Tony Rominger (SUI)  53,832 km 1994 Tony Rominger  55,291 km 1996 Chris Boardman  56,375 km

VON MARKUS VÖLKER

Es klingt relativ einfach: Jens Voigt muss heute Abend innerhalb einer Stunde 199 Runden auf dem Fichtenholz-Oval der Radrennbahn im schweizerischen Grenchen drehen, und schon darf er sich Stundenweltrekordler nennen. Wäre doch schön, wenn er einmal als Opa seinen Enkeln von diesem Coup erzählen könnte, sagt Voigt. Damit schriebe der stets gut gelaunte Berliner ein hübsches Nachwort zu seiner an Kapiteln reichen Karriere als Radprofi – und das nur einen Tag nach seinem 43. Geburtstag. Als Zielmarke gelten jene 49,700 Kilometer, die der Tscheche Ondrej Sosenka im Jahre 2005 auf der Bahn in Moskau-Krylatskoje nach 60 Minuten Kurbelei geschafft hat. Sosenka war kein Radler aus der ersten Reihe. Er fiel sogar zweimal sehr negativ auf: 2001 verpasste er eine Dopingkontrolle und 2008 wurde er mit einem Aufputschmittel erwischt. Dass Sosenka überhaupt in den Annalen des Radsports auftaucht, hat mit den Regularien des Weltverbandes UCI zu tun – aber dazu später.

Wer denkt schon an einen längst vergessenen Radsportler aus Prag, wenn Voigt, der seine Straßenradlaufbahn gerade erst bei der US Pro Challenge nach 18 Jahren Profisport und 17 Teilnahmen an der Tour de France beendet hat, jetzt bei seinem Rekordversuch 50 Kilometer weit radelt (Eurosport, 18.30 Uhr). „Es ist eine riesige Herausforderung für mich, sowohl körperlich als auch mental“, sagt Jens Voigt. „Es ist eine der ältesten Disziplinen in unserem Sport. Ich möchte sie ein wenig in den Fokus rücken, ihr die Magie vergangener Tage zurückgeben. Ich bin überzeugt, dass ich es schaffen kann“, sagt er. Früher musste niemand Werbung für die „Stunde“ machen. Vor 20 Jahren galt der Stundenweltrekord noch etwas. Wer ihn gebrochen hatte, untermauerte seinen hegemonialen Anspruch im Peloton. Der Stundenweltrekord war das Surplus einer gelungenen Karriere.

Legendär war der Versuch von Eddie Merckx, den er 1972 in der Höhe von Mexiko-Stadt in einem Freiluftoval unternahm. Der Belgier saß auf einem einfachen Columbus-Stahlrahmenrad, das allerdings nur 5,5 Kilogramm wog und unter der Wucht seines Antritts zu zerbrechen drohte. Aber die Maschine, deren Pneus mit Helium gefüllt waren, blieb heil. Merckx’ Rekord wurde erst in den Achtzigern durch den Einsatz moderner Technik gebrochen. Die Räder wurden noch leichter, aerodynamischer, futuristischer – und die Radler dadurch immer schneller.

In den 90er Jahren verstärkte sich die Hatz auf den Stundenweltrekord. Der Schotte Graeme Obree revolutionierte das Stundenfahren durch grotesk anmutende Haltungen. Einmal verharrte er in tiefer Liegestützposition auf dem Rad, ein andermal hockte er wie Superman auf dem Velo. Im etwas reiferen Alter wollte es der Einzelkämpfer auf einem Rad mit der Wahnsinnsübersetzung von 67:13 wissen, aber aus seinem geplanten Angriff auf den Weltrekord im Jahre 2009 wurde nichts.

Nach den schwindelerregende Tempojagden drehte sich das Weltrekordkarussell jedoch immer langsamer, bis es ganz zum Stillstand kam. Der Weltverband UCI hatte das Regelwerk geändert: Wer fortan Stundenweltrekordler werden wollte, musste sich auf eine Maschine setzen, die der von Merckx aus dem Jahr 1972 ähnelte. Rekorde auf Hightech-Bikes wurden nur noch als „Weltbestleistungen“ geführt – rückwirkend. Der sehr talentierte Zeitfahrer Chris Boardman fuhr nach der Regeländerung gerade einmal 10 Meter weiter als der Belgier in Mexiko, 28 Jahre später. Die „Stunde“ verlor an Reiz, zumal eine Blamage im Bereich des Möglichen lag.

Trotzdem unternahm der Schweizer Fabian Cancellara in diesem Jahr ernsthafte Versuche, sich auf ein hochtechnisiertes Retrozeitfahrrad zu setzen und die Sosenka-Marke zu knacken. Seine Radfirma Trek baute und schraubte schon an einem passenden „Merckx“-Modell, da platzte der Weltverband mit der Meldung ins Haus, dass von nun an Zeitfahrmaschinen erlaubt seien, also Räder mit Triathlonlenker und Scheibenrädern. Cancellara reagierte leicht indigniert auf diese Neuerung, die als „Modernisierung und Vereinfachung“ verkauft wurde. Es hätte doch seinen Reiz gehabt, schmollte Cancellara ein wenig, im Hier und Jetzt gegen einen Fahrer aus der Vergangenheit, also gegen Eddie Merckx, anzutreten. Er sei kein Gegner moderner Technik, aber jetzt müsse er das Projekt erst einmal überdenken.

Voigt ist nun der Erste, der sich an dem Weltrekord nach neuen Regeln versucht. Die Gelegenheit ist günstig wie nie, jetzt, da die Konkurrenz entweder die Wunden nach den anstrengenden Rundfahrten des Sommers leckt oder sich auf die WM am Ende des Monats vorbereitet.

Jens Voigt könnte also eine neue Ära der Stundenweltrekorde begründen. „Ich könnte den Weg bereiten für solche Fahrer wie Fabian [Cancellara]“, sagt er. Lange würde er den Rekord eh nicht behalten, Topzeitfahrer wie Tony Martin oder Cancellara sind einfach stärker. „Ich weiß, ich habe da keinerlei Illusionen“, sagt Jens Voigt, der Dauerradler.