Ein Strich durch die Besserwisserei

Der mittlerweile 93-jährige George Tabori inszeniert „Die Antigone des Sophokles“ auf der Großen Bühne des Berliner Ensembles – und streicht aus Bert Brechts Bearbeitung auf angenehm comicartige Weise das Schulmeisterliche

Rücken gebeugt, Augen tränenfeucht, Hände ringend: Helene Weigel hätte ob der ziemlich unbrechtischen Inbrunst, mit der Christina Drechsler die Antigone spielt, wahrscheinlich die Stirn gerunzelt. Die Weigel selbst spielte diese Rolle 1948 bei der Uraufführung von Bert Brechts Theaterbearbeitung des antiken Stoffs. Die Tragödie der Königstochter, die ihren im Kampf um die Macht gefallenen Bruder gegen den Willen des siegreichen König Kreon begraben will, sollte die Rückkehr des berühmten Exilantenpaares in das deutschsprachige Theater einleiten.

Brecht hatte den tragischen Konflikt behutsam, aber folgenreich bearbeitet: Während Sophokles noch Antigone und Kreon gleichermaßen Recht gab und so zur tragischen Spannung kam, erklärte Brecht den König zum bösen Angriffskrieger und schrieb ein zeitgemäßes Vorspiel, in dem zwei deutsche Schwestern ihren von der SS gehenkten Bruder finden. George Tabori, der Brecht im amerikanischen Exil noch kennen lernte, hat dieses Vorspiel gestrichen und macht aus der Not eine Tugend, dass die Brecht’sche Tragödienfassung ohne tragische Konflikte keine Tragödie, sondern eine ziemlich polemische Angelegenheit ist. Bei Tabori sind Antigone und Kreon zwei gleichermaßen traurige Gestalten.

König Kreon (Gerd Kunath) sieht mit seiner roten Toga überm schwarzen Outfit aus wie ein dummer Römer aus einem Asterix-Heft. Nicht wirklich böse, sondern bloß eitel und stur. Aber man möchte die Welt auch nicht in den Händen der fanatischen Antigone wissen, die ihre Weltsicht so heulend und zähneklappernd vertritt, dass man es mit der Angst bekommt.

Die Aufführung war im vergangenen August schon im Rahmen des Brechtfestes auf der Probebühne des BE zu sehen. Nun ist sie auf die Große Bühne gezogen. Zuerst erscheint auf dem weißen, diagonal über die Bühne führenden Steg Tiresias als thebanischer Rentner in Birkenstocksandalen. Brechtgemäß weist er darauf hin, dass hier Theater gespielt wird, damit unsereins als Zuschauer was fürs Leben lernen kann.

Aber Tabori, der selbst schon ziemlich lange lebt und mit fast 93 fast doppelt so alt ist, wie Brecht je wurde, liegt jedes Belehren fern. Deshalb inszeniert er die ganze Geschichte als zärtlichen Comic über die unheilvollen Konsequenzen allen Rechthabenswollens und Belehrungsbestrebens. Alle Figuren sind bekennende Theaterfiguren, sie kommen links hinten aus einer weißen Kiste, tippeln über den Steg oder sitzen auf Bierbänken. Nur mit dem Zeigefinger wackeln sie nicht. Der König hat einen schönen Sessel, in dem er wie auf einem Regiestuhl Platz nimmt. Dieser Kreon, der so lange Recht behalten will, bis alle anderen tot sind, könnte auch ein ironischer Kommentar auf den alten Brecht sein – der neigte ja in seinem Drang, die Welt zu verbessern, auch gelegentlich zu leichter Betriebsblindheit.

Am Ende wird in Serie und mit großen Gesten gestorben. Eine Moral bleibt der kleinen Geschichte: Leute, lasst halt manchmal fünfe gerade sein. Dann lebt ihr länger. Tabori macht uns im richtigen Leben vor, wie das geht: Gerade hat er wieder ein neues Stück geschrieben, Uraufführung ist in Planung. Zwar müssen die Schauspieler zum Probieren zu ihm nach Hause. Aber er wohnt ja gleich neben dem Theater. ESTHER SLEVOGT

Aufführungen: 27. 4., 22. 5., 1. 6.