Was soll man denn machen

ERWACHSENWERDEN Antù Romero Nunes inszeniert „Rocco und seine Brüder“, den Klassiker des Neorealismus, am Maxim Gorki Theater. Die Vorlage für das Porträt des Brüder-Quintetts ist der Film von Luchino Visconti

Wenn Simone als angehender Boxer wie Vieh begutachtet und als „Kanake“ angesprochen wird, erzählt das auch eine Geschichte von Migration und Ausgeschlossensein

VON ANNE PETER

Selten geht es auf der Bühne zugleich so lässig und verspielt, so ideensprühend und gedankenhell zu wie bei dem jungen Regisseur Antù Romero Nunes. Dazu braucht er nichts als einen guten Soundtrack, ein bisschen Nebel, Schnee-Konfetti, Strobolicht auf leer klaffender Bühne – und Schauspieler, die souverän mit ihren Mitteln jonglieren und dabei federleicht zwischen Fiktion und Realität, Figur und Schauspieler hin- und hertänzeln. Dieses Theater verbirgt nie, Spiel zu sein, lässt das Making-of immer sichtbar und die Emotionen trotzdem hochschießen.

Der 27-jährige, einer der begehrtesten Jungregisseur dieser Republik, inszeniert jetzt am Maxim Gorki Theater zum ersten Mal auf der großen Bühne: Luchino Viscontis Film „Rocco und seine Brüder“ von 1960. Dieser Klassiker des Neorealismus erzählt die Geschichte von fünf Brüdern, die aus Süditalien nach Mailand aufbrechen, um sich im kalten, industrialisierten Norden ein neues Leben aufzubauen. Es ist ein symbolisch aufgeladener Film voller Pathos, mit Schwarz-Weiß-Bildern, die Armut und Existenzkampf bedrückend schön ausmalen. Der junge Alain Delon spielt den Rocco als einen Heiligen, der sich im Kampf um familiären Zusammenhalt aufopfert.

Opfergedanke, Familiendusel, Heimatseligkeit – das ist uns einigermaßen fremd geworden. Und ebendiese historische Ferne markiert Nunes, indem er den ersten Teil der Ankunft in Mailand als virtuose Stummfilm-Pantomime spielen lässt. Übertitel laufen durch, die weiß geschminkten Gesichter schneiden Grimassen, und das Lautlos-Gefuchtel parodiert die theatralischen Gesten des Visconti-Films. An Mantelschöße geknüpfte Bindfäden lassen sie im imaginären Wind flattern, das Schlottern macht die Kälte, ein offener Koffer, hochgestemmt, das Dach überm Kopf.

Gesprochen wird erst, als Nadia (Anne Müller) auftaucht, jene Frau aus dem Norden, die die Blutsbande zerstäuben wird: Wenn sie Vincenzo (Albrecht Abraham Schuch) küsst, erscheint dazu über der Bühne ihre Filmreplik: „Du bist nett.“ Er atemlos: „Was hast du gesagt?“ Sie: „Nichts.“ Er zeigt auf den Übertitel, erwartungsvoll. Sie: „Projektion.“ So leicht erzählt es sich von Anerkennungssehnsucht und Wunschfantasien.

Mühelos, wie nebenbei fließen bei Nunes Kommentare ein, reißen Assoziationsfelder auf, werden Ebenen gewechselt. Nie wirkt das gewollt oder verkopft. Einmal auf die Tonspur gewechselt, zieht die Inszenierung den Visconti-Stoff ganz nah ans heute schlagende Herz. Sie setzt dabei weniger auf die Love-Story als auf das Porträt eines Brüder-Quintetts, das ums Erwachsenwerden wie um Anerkennung kämpft und sich mit einer Palette unterschiedlicher Lebensentwürfe herumschlägt. „Was soll ich denn machen?“, ist denn auch die viel gestellte Leitfrage des Abends. Da wird über Familienvaterfreuden und Tellerwäscherträume improvisiert. Der eine boxt, der andere malocht bei Alfa Romeo. Ciro (Matti Krause) bedient sich bei Franz Moor, schließlich hat er „große Rechte, über die Natur ungehalten zu sein“, und speist daraus seine Aufstiegsideologie, „von ganz unten nach ganz oben“. Simone wird unter der Verachtung der anderen zum Woyzeck’schen Mörder.

Wenn Simone als angehender Boxer wie Vieh begutachtet und als „Kanake“ angesprochen wird, erzählt das auch eine Geschichte von Migration und Ausgeschlossensein. Und wenn das der dunkelhäutige Südtiroler Michael Klammer spielt, wird der diskriminierende Blick, mit der die Norditaliener den Süditalienern in Viscontis Film begegnen, umso deutlicher markiert und in Sarrazin’sche Gegenwart übersetzt. Am Ende singt ein Junge mit türkischem Namen (Alp Erdener Ergovan) glockenhell den Verlust-Song „How to save a life“ von Fray.

Nunes nimmt Motive des Films auf, deutet, kommentiert, überträgt. Aber nie setzt er sich und seine Schauspieler der Gefahr aus, mit Viscontis Meisterwerk konkurrieren zu müssen, weil er es nicht imitiert, sondern mit den Mitteln des Theaters kontert. Welche Streiche uns dieses zu spielen vermag, wird nicht zuletzt deutlich, wenn Robert Kuchenbuchs Rocco im Eifersuchts-Kampf mit voller Wucht gegen die Bühnenwand donnert, eine Lampe zu Bruch geht, Blut strömt und Klammer an die Rampe tritt, um die Vorstellung abzubrechen. Wäre da nicht das Pflaster gewesen, mit dem Kuchenbuch weiterspielt – es hätte auch einer jener typisch Aus-der-Rolle-Faller sein können, mit denen Nunes das Publikum immer wieder beim Illusions-Schlafittchen packt und in den Strudel aus Verführung und Verfremdung, Verzauberung und Entzauberung hineinreißt.

■ Nächste Termine: 9., 27. Mai sowie 3., 9., 16., 30. Juni, jeweils 19.30 Uhr, Maxim Gorki Theater