PHILIPP MAUSSHARDT über KLATSCH
: Zum Weinen auf den Friedhof

Vor einem Sarg öffnen sich automatisch meine Tränendrüsen. Das hatte mein Sohn nicht erwartet

Am Samstag löste mein Sohn den letzten Gutschein ein, den er vor einiger Zeit zu einem besonderen Anlass von mir geschenkt bekommen hatte. Drei Dinge waren ihm darin versprochen worden. Erstens: der Besuch eines Spiels des FC Bayern München in der Allianz Arena. Zweitens: 20-mal von mir in hohem Bogen abends ins Bett geworfen zu werden. Und drittens: die Teilnahme an einer echten Beerdigung. Die ersten beiden Punkte waren schnell eingelöst, nur bei der Beerdigung tat ich mich schwer, den richtigen Tag und den richtigen Ort zu finden. Eigentlich ist es ja erfreulich, dass im vergangenen Jahr niemand mir nahe stehendes zu Grabe getragen wurde. Aber der Sohn drängte. „Wann gehen wir endlich zu einer Beerdigung?“

Vergangenen Samstag war es endlich so weit. Obwohl Samstags normalerweise selten Tote beerdigt werden, jedenfalls in unserer Gegend. Dabei hätten die Trauergäste am Wochenende doch viel mehr Zeit als unter der Woche. Die meisten Beerdigungen finden merkwürdigerweise um 14 Uhr statt, an einem ganz normalen Werktag. Man muss Urlaub nehmen, sich durch den Berufsverkehr quälen, um dabei sein zu können. Vielleicht steckt die Gewerkschaft der Totengräber hinter dieser Regelung, die ihren Mitglieder das Wochenende freihalten will? Oder aber der „Verband der Cafébesitzer in Friedhofsnähe“ (VCF). Denn nach der Beerdigung ist es zum Mittagessen zu spät und zum Abendessen meist viel zu früh. Bleibt also nur das Kaffeetrinken – von dem im Umkreis eines jeden Friedhofs in Deutschland eine ganze Branche lebt.

Zu einer anständigen Leiche gehört von jeher ein anständiger Leichenschmaus. Schöner ist allerdings die Bezeichnung „Reueessen“, wie die Rheinländer sagen. Verwandte und Freunde bereuen, was sie dem Toten gegenüber an Verfehlungen begangen haben. Ist zwar jetzt ein wenig spät, aber besser hinterher als gar nie. Dann spricht man noch ein wenig über den oder die Verstorbene(n) und erzählt sich Anekdoten aus dessen Leben. Nur selten ist es andersherum. In München hat vor nicht all zu langer Zeit ein Toter das „Reueessen“ dazu benutzt, der versammelten Trauergemeinde seinerseits zum letzten Mal seine Meinung zu sagen: Auf seinen testamentarischen Wunsch wurde ein Tonband abgespielt, auf dem er Verwandte und Freunde als „Saubande, elende“ beschimpfte.

Zurück zum Samstag. Endlich war auf der in der Lokalzeitung veröffentlichten Bestattungsliste ein Beerdigungstermin am Samstag vermerkt: 11 Uhr. Wir zogen uns dunkle Hemden an, ein Jackett und waren pünktlich zum Glockengeläute in der Aussegnungshalle des Friedhofs. „Papa, wer ist da gestorben?“ – „Psst, jetzt nicht.“ Ich wusste es ja selbst nicht. In der letzten Reihe war noch Platz. Wir sahen den Sarg mit weißen Rosen geschmückt, lange blieb es still, bis die Pfarrerin mit einem Lied aus dem evangelischen Kirchengesangbuch der Veranstaltung wieder etwas Leben einhauchte. „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag.“ Die zwei Liedzeilen reichten aus, dass mir die Tränen in die Augen schossen und mein Sohn verwundert zu mir herüberschielte, wie ich mir die Augen trocken rieb. „Du kanntest den doch gar nicht?“ Ich bat ihn, leise zu sein.

Ich heulte bald wie ein Schlosshund. Ich kannte den Toten tatsächlich nicht. War ihm nie begegnet, hatte ihn nie gesehen, nie ein Wort mit ihm gesprochen, vielleicht wäre er mir im Leben sogar unsympathisch gewesen.

Jetzt zerfloss ich. Es ist bei mir ein wenig wie das reflexhafte Bellen eines Hundes beim Anblick des Briefträgers: Man könnte mich sogar vor einen leeren Sarg stellen und ich würde zu weinen beginnen. Noch schlimmer: Selbst wenn Hans Karl Filbinger im Sarg läge, ich könnte mich nicht gegen den Tränendrüsendruck wehren.

Meinem Sohn hat die Veranstaltung nicht gefallen. Er war enttäuscht. Er hatte sich mehr davon versprochen, als einen weinenden Vater zu sehen. „Ich will nicht mehr zu einer Beerdigung“, sagte er im Hinausgehen, „jedenfalls nicht so schnell.“

Fragen zum Tod? kolumne@taz.de Montag: Bettina Gaus über FERNSEHEN