Kellerfantasie

OH! Wie echt muss eine Reportage sein? Eklat bei der Vergabe des Henri-Nannen-Preises

Als Leitmotiv seiner am Freitagabend im Hamburger Schauspielhaus mit dem Henri-Nannen-Preis ausgezeichneten Reportage „Am Stellpult“ dient Spiegel-Redakteur René Pfister die Modelleisenbahn im Keller des Ferienhauses von CSU-Chef Horst Seehofer. „Es ist eine Märklin H0 im Maßstab 1:87, er baut seit Jahren daran“, schreibt Pfister. „Die Eisenbahn ist ein Modell von Seehofers Leben.“

Woher die Spiegel-Edelfeder das bloß wieder weiß? Seehofer hat es ihm erzählt, während einer Reise. Im Ferienhauskeller war Pfister aber nie, wie er auf eine entsprechende Frage von Galamoderatorin Katrin Bauerfeind freimütig einräumte.

Dass Pfister sich offenkundig keiner Schuld bewusst war, zeigt, dass er nicht bewusst getäuscht hat, es zeigt aber auch, wie ein Autor den Bogen der Spiegel-üblichen Einfühlung und zur Erzählung kondensierten Realität überspannt hat. Leser lieben solche Geschichten, Kollegen bewundern die Nähe des Magazins zu den Mächtigen und die Gabe, „Charakterhöhlen“ eines Mannes ans Licht zu bringen, wie Laudator Peter-Matthias Gaede (Geo) es formulierte.

Es würde an ein Wunder grenzen, wenn ausgerechnet ein mit dem Henri-Nannen-Preis ausgezeichneter Text der erste wäre, der es mit der Augenzeugenschaft als zentrales Reportagekriterium nicht ganz so genau nimmt. Neben Seehofer im Flugzug zu sitzen ist eben längst nicht das Gleiche, wie mit Seehofer in den Keller zu gehen.

Vor allem investigative Journalisten, die über Jahre hinweg mühevoll Kontakte knüpfen und pflegen, um an exklusive Informationen zu kommen, fühlen sich nun getäuscht. Würden sie Gesprächspartnern unüberprüft alles glauben, was die ihnen so erzählen – es wäre ein Erdrutsch für ihre journalistische Glaubwürdigkeit. Auch die von Pfister und seinem Arbeitgeber hat durch den Vorfall gelitten – es würde dem so kritischen Spiegel gut zu Gesicht stehen, sich nun auch über diesen Einzelfall hinaus in Selbstkritik zu üben. DENK