Melancholie in homöopathischen Dosen

Als Prosaautor ist Hans-Ulrich Treichel ein feinsinniger Stilist. Leider vergisst er das bei seinen neuen Gedichten selbst

Das Verwechseln von Ich und Autor in Gedichten wird mit Germanistikstudium nicht unter fünfzehn Semestern bestraft. Rezensent hat seine Strafe für dieses Vergehen bereits abgesessen, darf also nicht erneut bestraft werden; denn er kommt nicht umhin, sich hinter dem Ich in den neuen Gedichten Hans-Ulrich Treichels eine konkrete schreibende Person vorzustellen.

„Heute radle ich mal nach Kreuzberg, / nix Prenzlberg, nix Kollwitzplatz, / heute radle ich antizyklisch, / bin schließlich in Kreuzberg zur Schule / gegangen, zur Schule des Lebens.“ Idiomatisch breitgetretene Genitivmetaphern werden übrigens ebenfalls geahndet, das Strafmaß bleibt noch festzusetzen. Der hier radelt jedenfalls, weiß nicht viel mehr zu sagen, als dass er seinerzeit das Paul-Linke-Ufer gründlich vermessen und eine Trattoria gefunden hatte, in der er auf Italienisch bis drei zählen durfte. Beinahe hätte er sich „ein Plakat / mit Anna Magnani neben den / Kachelofen gehängt“, als er „noch jung war und / wußte, wie’s läuft“.

Ja, Abende gab es, da verordnete der Allmächtige die Melancholie in homöopathischen Dosen. Man nippte am Roten und wippte versonnen im Polster einer ziemlich kommod gefederten Existenz. Man saß auf dem Balkon, sah „den Rauch aus Grillfeuern steigen“ und schrieb Rezepte. Nein, nicht für Grillfleischmarinaden, sondern gleich für einen ganzen Sommertag: „Man nehme: / Hitze über dem Zetkin-Park / ungefähr dreißig Grad / Krähen und schlafende Hunde“ und sowieso „dazu meine Nachsicht / mit allem was ist“.

Nachsicht wohl vor allem im Hinblick auf Form und Substanz der eigenen Gedichte. Da gibt es ein bisschen Jahreszeitliches („Frühlingstag“, „Sommertag“, „Endlich Herbst“), ein paar alltägliche Realien („Warum lächelt der Hauswart? / Habe ich etwa die Treppe gefegt“), eine Hand voll weltgewandter Cityhopper-Notate, um zu zeigen, dass man zwischen Berlin und Leipzig auch in Venedig die Gondeln, in Peking kleine Wachteln vor der Schlachtung noch im Käfig sah und in Harlem nun wirklich keine Angst mehr haben muss, außer vielleicht davor, als Ostwestfale geächtet zu werden: „Where y’from, buddy? / East Westfalia. / Fuck You!“ Das war es schon fast. Und vom Straßenelend in Indien will Treichel lieber nicht berichten, braucht dafür aber immerhin noch satte dreizehn Zeilen.

Als Leser darf man qua Anspielung und Zitat noch ein oder zwei bildungsbürgerlichen Rätselspuren folgen. Den subtilen Ironiker, den feinsinnigen Stilisten, den man aus der Prosa Treichels kennt, sucht man in diesen Gedichten indes vergebens. Es herrschen Betulichkeit und Langeweile. Letztlich erschütternd jedoch ist die weitgehende Abwesenheit jedweden Formwillens. Vereinzelt konzentrierte Miniaturen, gelegentlich Gereimtes, aber weithin dennoch die Frage: Warum schreibt der die Zeilen nicht voll? Es wäre doch noch so viel Platz gewesen. Hinzu kommt eine seltsame Art von Bedeutungshuberei: Ein verirrter Mauersegler im Zimmer ist sofort ein „Geschoß aus Panik“, und „plötzlich war Krieg im Haus“, Nun je, so ein Vogel macht in geschlossenen Räumen schon ordentlich Radau, aber Krieg ist dann doch noch mal was anderes.

„Schreiben Sie eigentlich noch Gedichte?“ ist der letzte Text des Bandes betitelt. Die schließliche Antwort lautet: „Nur wenn es sein muß / sonst nie“ – eine solche Vorlage zeigt schon fast wieder Größe. NICOLAI KOBUS

Hans-Ulrich Treichel: „Südraum Leipzig“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007, 92 Seiten, 14,80 Euro