DIE TAGESKLINIK
: Auf der Treppe

Und dann habe ich Heimweh – oder Durst

„Psychiatrische Tagesklinik“ steht auf dem Schild, das an dem Haus in der Körtestraße hängt. Jeden Morgen fahre ich mit dem Fahrrad daran vorbei, auf meinem Weg zur Arbeit und jeden Nachmittag auf meinem Weg zurück. Eine Treppe führt auf einen terrassenartigen Vorbau des Eingangs. Morgens ist dort niemand. Nachmittags ist die Treppe des Eingangs bevölkert mit Rauchern. Sie sitzen auf bunten Kissen und haben Tassen oder Aschenbecher in der Hand. Es sieht sehr gemütlich aus, denke ich mir oft. Und dann habe ich Heimweh. Vielleicht habe ich aber auch nur Durst.

Heute Nachmittag winkt mir jemand von der Treppe aus zu. In der rauchenden Menge entdecke ich Ottos Gesicht. Ich halte an. „Hallo Otto“, sage ich. Eine Brünette, die auf dem Treppengeländer sitzt, lächelt mir freundlich zu. „Hallo“, sagt Otto und macht mir Platz neben sich. Die Brünette wirft mir ein Kissen zu, mit Brandlöchern im grünen Blümchenmuster.

„Wie geht’s?“ Otto schaut verlegen zu Boden. Er räuspert sich. „Arbeitest du hier?“, frage ich und gleichzeitig erinnere ich mich, dass er das letzte Mal, als ich ihn getroffen habe, noch bei einer Unternehmensberatung gearbeitet hat. Otto schüttelt den Kopf.

„Besuchst du jemanden?“ Er schaut mich mit großen Augen an. Ich hatte ganz vergessen, wie groß und braun seine Augen sind. Groß und braun und sehr, sehr sensibel. „Eigentlich nicht“, sagt er. „Du bist Patient hier?“, frage ich. Wir kennen uns meiner Meinung nach doch gut genug. Er schüttelt wieder den Kopf. „Ich sitze nur gerne hier“, sagt er. „Hier kann ich mich entspannen, hier fühle ich mich wohl.“

„Aha“, sage ich und nehme die Zigarette, die mir ein blonder, dicker Herr eine Treppenstufe unter uns anbietet, an. Otto gibt mir Feuer und auch er zündet sich noch eine Zigarette an. Langsam fange ich an, mich zu entspannen. MAREIKE BARMEYER