: Die Stadt am Strand
Seit fünfzig Jahren fahren die Deutschen in Massen an die Adria. Extra für sie wurde Bibione gebaut, eine Touristenstadt am Meer, 90 Kilometer nördlich von Venedig. Preisdiktat und Sauberkeit heben die Urlaubslaune. Über die Urlaubslust am großen, überlaufenen Strand
VON CHRISTINE BERGER
Es blühen seltsame Blumen am Mittelmeer. Sie leuchten in allen Farben, haben Blätter von der Spanne eines Männerarms und riechen nach nichts. Morgens in aller Frühe strecken sie sich aus, abends falten sie ihre Blüten zusammen, zu sehen ist dann nur noch ein Stängel, schmal wie ein Spazierstock. Wir kommen spät an. Doch der Gang zum Wasser muss sein. Da stehen sie, stramm wie Soldaten auf einer Militärparade. Es sind Sonnenschirme, die fahl im Mondlicht zu tausenden auf den nächsten Tag warten. 20.000 zusammengeklappte Schirme an einem elf Kilometer langen Strand, fünfhundert Meter breit, davor klares Wasser, milde Wellen. Jetzt um Mitternacht ist niemand hier.Wir wandern durch den Schirmwald bis zur Wasserkante, sehen am Horizont einige Lampen leuchten. Bojen vielleicht oder Patrouillenboote. Dem Ufer abgewandt blicken wir auf eine ganze Armada von Lichtern – Restaurants, Hotels, Bars und natürlich die Straßenlaternen. 80.000 Gästebetten, 2.700 Einwohner. Schwer vorstellbar, dass hier vor sechzig Jahren in der Nacht Dunkelheit herrschte, nur bekränzt vom Sternenhimmel.
Bibione ist eine Stadt, die es nie gegeben hätte, wären die Deutschen nicht so gern ans Meer gefahren. Eine Stadt nur für Touristen, vornehmlich Deutsche, die hier ihren Sommerurlaub verbringen, mit Kind und Kegel anreisen. Am Reißbrett geplant mit Einkaufsmeile, Strandpromenade und Unterhaltungsprogramm.
Bernadette Lechner-Konderla ist in Bibione quasi aufgewachsen. „Zweimal im Jahr fahren wir hierher“, erzählt die 49-Jährige, die mit ihrer betagten Mutter eine kleine Ecke auf dem größten Campingplatz der Region bewohnt. Ein VW-Caravan mit Vorzelt, eine Bierzeltgarnitur, das reicht ihnen für ein paar Wochen Ferien am Meer. Pfingsten waren sie auch hier, „von Oberbayern sind es nur fünf Stunden“, erzählt die Mutter, Dr. Marianne Lechner. Sie führte früher zusammen mit ihrem Mann eine Arztpraxis in der Nähe von Altötting. „Die Patienten sind uns heute noch dankbar, dass wir ihnen die Adria empfohlen haben.“ Die gute Luft, die wärmende Sonne, das salzige Wasser.
Als die 84-Jährige vor sechzig Jahren zum ersten Mal mit ihrem Mann hierherfuhr, war es noch ziemlich einsam auf der Lagune. „Es gab nur einen Campingplatz, sonst nichts.“ Der Zeltplatz war klein, keine warmen Duschen, keine Restaurants. Das hat sich im Laufe der Zeit geändert. Als immer mehr Deutsche über den Brenner kamen, begann der Bauboom. Ein Hotel nach dem anderen entstand, 94 sind es mittlerweile. Jedes hat einen Pool, die Architektur vieler Häuser zeugt von der Entstehungszeit, den 1960er- und 70er-Jahren.
Den Lechners gefällt die Entwicklung. Dass der Campingplatz ein eigenes Schwimmbad hat und neue Sanitäranlagen. „Herrlich“, seufzt die Mutter. Bis vor kurzem sind auch ihre Enkel mitgefahren, die sind jetzt erwachsen und konnten nicht mitkommen, weil sie arbeiten müssen. „Wir haben sie immer mal gefragt, ob wir nicht lieber Ferien im Hotel machen wollen, aber da war nichts zu machen. Die Kinder wollten auf den Campingplatz“. Kein Wunder, jedes Jahr kommen dieselben Kinder mit ihren Familien hierher. „Als Jugendliche haben sie die Klubs und Diskos der Umgebung unsicher gemacht, die kannten sich hier aus.“ Bernadette Lochner-Kondera lacht, fünf Kinder habe sie manchmal dabei gehabt, „weil die Freunde von unseren zweien auch mitwollten“. Bibione war das Traumziel der Großeltern, Eltern und Enkel, und das ist es bis heute.
Das hört Elisabetta Dotto gerne. Sie ist die Präsidentin des ostvenezianischen Fremdenverkehrsverbandes. „Wir haben den Deutschen sehr viel zu verdanken“, erzählt sie bei einem Essen im Al Casoni, einem sehr guten, rustikalen Restaurant am Hafen von Bibione. „Verlässlich, weil sie immer pünktlich bezahlen und vor allem, weil sie immer wiederkommen.“ Das hat den Leuten der Region Wohlstand gebracht. Elisabetta Dottos Vater baute 1959 eines der ersten Hotels auf dem schmalen Lagunenstreifen hinter den Sümpfen, die heute Naturschutzgebiet sind. Sechs Millionen Übernachtungen zählt der Ort, früher waren es sogar noch mehr.
Die Deutschen haben längst auch andere Ziele entdeckt, fliegen nach Antalya oder Mallorca, nach Tunesien und an die Costa Brava. Dennoch bleiben viele der Adria treu, vor allem Familien. Die kommen in der Mehrheit mit dem Auto her. Kinder bevölkern Strand und Straßen. In Bibione arbeitet man auch mit den großen Reiseveranstaltern zusammen, „doch jeder Hotelier ist hier Besitzer“, versichert die Präsidentin. In italienischen Ferienorten wird mittlerweile penibel auf Sauberkeit geachtet. Bibione hat es auch im letzten Jahr wieder geschafft, eine Auszeichnung der EU, die Emas-Zertifizierung, für die sauberen und umweltfreundlichen Verhältnisse am Ort zu bekommen. Zum 14. Mal zeigt Bibione in diesem Jahr zudem die „Blaue Flagge“ für hervorragende Wasserqualität und aktiven Umweltschutz auf einem Schild am Ortseingang. Mülltrennung ist sogar bei den Straßenpapierkörben selbstverständlich. Das Beste aber, was sich die Bibioner haben einfallen lassen, ist ein Preisdiktat. Eine Reihe von Restaurants und Bars haben sich verpflichtet, für einen Espresso nicht mehr als 80 Cent zu verlangen, eine Pizza Marguerita kostet 4,50 Euro.
Vom Hotel zum Strand ist es ein Katzensprung, und wenn es dort am frühen Nachmittag zu heiß wird, wird Siesta gehalten. Zwei Stunden Schlaf im klimatisierten Zimmer, danach ist es Zeit für einen Espresso. Hotelier Gianni Clementi spielt derweil eine Runde Tennis auf der hauseigenen Anlage. Seine Familie hat das Hotel 1999 gekauft, den Clementis gehören insgesamt vier Anlagen in Bibione. Ursprünglich stammen sie aus Portogruaro, einer Stadt rund zwanzig Kilometer von Bibione entfernt im Landesinnern. Dort lebt er mit seiner Frau und zwei Kindern während der Wintermonate.
Drei Monate im Sommer managt der gebürtige Venezier das Esplanada, ein 4-Sterne-Hotel. Im vergangenen Jahr hat er es umbauen lassen, knallorange leuchtet die Fassade, der Pool hat sich von einem Viereck in eine Wolkenform verwandelt. Clementi ist Architekt, das sieht man. Im kommenden Jahr will er ein Fitnesscenter eröffnen, das Gebäude ist schon fertig, mit seiner länglichen Form und dem gerundeten Dach liegt es wie ein Bahnwaggon am Pool.
Neben seinem Job als Architekt und Hotelier managt er auch noch den Strand von Bibione und sorgt dafür, dass vierzig Animateure täglich die Gäste bei Laune halten. Aerobic, Yoga, Beachvolleyball, alles ist möglich, die Kurse sind kostenlos wie auch der ganze Strand umsonst betreten werden darf. Nur die Miete einer Liege mit Sonnenschirm kostet 9 Euro pro Tag.
Aber wer einmal bequem unterm Schirm geschlummert hat, möchte nie wieder mit dem Handtuch im Sand liegen. Zumal in der prallen Sonne. Wir genießen den Augenblick. Fünfzig Jahre Bibione haben der Adria nicht geschadet. Im nächsten Jahr kommen wir mit den Kindern hierher.