Geteilte Erfahrungen

ANGEHÖRIGE Julia Albrecht und Corinna Ponto lasen im Berliner Ensemble aus ihrem so mutigen wie persönlichen RAF-Aufarbeitungsbuch „Patentöchter“

Sie lachten, wie man auf Beerdigungen lacht, wenn man unendlich traurig ist

Jeder Tag beginnt mit der RAF. Auf radioeins gibt es jeden Tag „Geschichte in Augenblicken“. Im Vorspann jeder Sendung appelliert Helmut Schmidt an die Entführer von Hanns Martin Schleyer: „Beenden Sie Ihr irrsinniges Unternehmen! Sie irren sich!“ Irgendwie ist es gruselig, dass der Appell Helmut Schmidts nun Teil eines catchy Eingangsclips für eine verdienstvolle, kleine Geschichtssendung ist. Dass das Singuläre des dramatischen Appells und des folgenden Mords in Serie gegangen ist. So wie die Filme über die RAF.

Weil das Thema RAF schon so häufig bearbeitet wurde, droht die reale Geschichte hinter diesen Bearbeitungen zu verschwinden. Die Einsprüche derer, die Opfer dieser Geschichte wurden, sind wie nervige Störgeräusche – etwa als Ignes Ponto, die Frau des 1977 von der RAF ermordeten Vorstandsvorsitzenden der Dresdner Bank, 2008 ihr Bundesverdienstkreuz zurückgab aus Protest gegen die falsche Darstellung des Mordes, dessen Zeuge sie gewesen war, in dem Film „Der Baader Meinhof Komplex“.

Ihre präzise Darstellung des Geschehens steht in „Patentöchter – Im Schatten der RAF – ein Dialog“. Ansonsten besteht das Buch aus Briefen, die Corinna Ponto, die Tochter des Opfers, und Julia Albrecht einander geschrieben haben. Julia Albrecht ist die jüngere Schwester von Susanne Albrecht, die als Teil des RAF-Kommandos Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar in das Haus ihres Patenonkels Jürgen Ponto geführt hatte.

Der Kontakt zwischen den eng miteinander befreundeten Familien war nach dem Mord abgebrochen. 30 Jahre später hatte Julia Albrecht den ersten Brief geschrieben. Corinna Ponto hatte geantwortet. Aus dem Briefwechsel entstand das „Patentöchter“-Buch, das sich liest wie ein Dokumentarfilm und durchgehend gute Kritiken bekam. Am Montagabend wurde es von den beiden Autorinnen im Berliner Ensemble präsentiert; dem Theater also, in dem Christian Klar zunächst ein Praktikum hatte machen sollen und an dem Erich Ponto, der Onkel von Jürgen Ponto, bei der Uraufführung der „Dreigroschenoper“ mitgespielt hatte. Die Veranstaltung war gut besucht. Das Publikum war eher 50 plus. Kinder waren auch dabei.

Neben den beiden Autorinnen, der zierlichen, zurückhaltenden Julia Albrecht und der eher kräftigen Corinna Ponto, die man sich gut in ihrem Beruf als Opernsängerin auf der Bühne vorstellen kann, saßen Helge Malchow, Chef des Verlages Kiepenheuer & Witsch, und Lutz Dursthoff, der Lektor des Buchs. Das Buch sei wie ein rohes Ei und wecke Beschützerinstinkte, wurde eine Rezension von Pieke Biermann im Deutschlandradio zitiert.

Die beiden Autorinnen beeindrucken auch deshalb, weil sie so unterschiedlich wirken und weil ihr Auftritt nichts Einstudiertes hat. Ein Teil ihrer Erfahrungen ist ähnlich, beide wurden stigmatisiert, beide sind in ihrer Biografie von einer Abwesenheit geprägt (der des ermordeten Vaters, der der 13 Jahre lang verschwundenen, bewunderten Schwester), vom Schweigen auch der Umgebung, die sie gleichzeitig immer als Tochter oder Schwester von … wahrnahm, was so weit ging, dass Julia Albrecht oft als Susanne Albrecht angesprochen worden war.

Sie lasen abwechselnd aus dem Buch und erzählten. Davon, dass es das Gegenüber brauchte, um überhaupt schreiben zu können, von ihrer anfänglichen Angst, zu persönlich und privat gewesen zu sein. Dies Persönliche macht das Buch aber gerade für jeden Leser nachvollziehbar. „Die Öffentlichkeit drang (damals) in unseren privaten Raum ein und nun gehen wir mit dem Privaten zurück in die Öffentlichkeit“ (Corinna Ponto). Für beide war der Schreibprozess eine wichtige Erfahrung, auch eine „Ablösung“ (Corinna Ponto), eine Objektivierung. Schreibend „stand ich neben der Geschichte, als wäre es nicht meine eigene“, sagte Corinna Ponto. Gleichzeitig hätte die Geschichte durch das Aufschreiben etwas Verbindliches bekommen. „Ich fühle mich gebunden an meine Aussagen.“ Aussagen etwa, in denen es um ihren Verdacht geht, die RAF sei von östlichen Geheimdiensten gesteuert worden. Corinna Ponto ist überzeugt davon, dass sich ihr Verdacht in den nächsten Jahren belegen lassen wird.

Man muss diesen Verdacht nicht teilen, um das Buch, das eine beredte Leerstelle enthält – Susanne Albrecht äußerte sich ja nicht –, und den Auftritt der Autorinnen beeindruckend und wichtig zu finden. Manchmal lachten die beiden auf der Bühne, in der Art vielleicht auch, in der man auf Beerdigungen lacht, wenn man eigentlich unendlich traurig ist. Man freute sich über ihre Freundschaft und ist dankbar, dass sie den Mut und die Kraft fanden, ihre Erfahrungen zu teilen. DETLEF KUHLBRODT