Nachhilfe in Vergessen

SPIELMOBIL Seit 25 Jahren kommt der Verein Spieltiger dahin, wo er gebraucht wird: in Stadtviertel mit wenig Angeboten für Kinder und immer öfter auch in Flüchtlingsheime. Die Kinder dort lernen spielerisch, miteinander zu kommunizieren, auch wenn sie keine gemeinsame Sprache haben. Und wenn es gut läuft, vergessen sie für ein paar Stunden ihre oft traumatischen Erfahrungen

VON ANDREA SCHARPEN

„Hier leben zu viele Menschen auf zu engem Raum“, sagt Laura Mittenzwei und lässt ihren Blick über die umliegenden Gebäude wandern. Viele graue Hochhäuser ragen in der Siedlung im Hamburger Stadtteil Osdorf in den Himmel. Die sportliche 26-Jährige in Jeans und T-Shirt steht auf einem kleinen Parkplatz neben zwei hell gestrichenen Wohnblocks. Neben den großen Nachbarn sehen sie mit ihren vier Stockwerken fast klein aus. Aus geöffneten Fenstern dringt Essensgeruch auf den Platz und eine verräterisch süßliche Wolke. Ein paar Jugendliche stehen neben einem Auto, aus den Boxen schallt Hip-Hop; aus einem Wohnhaus laute orientalische Musik.

Nach und nach kommen immer mehr Kinder auf den Platz. Sie haben den großen, türkis-blauen Laster entdeckt. Ein Mädchen kreischt fröhlich „Spieltiger“ und zieht dabei das i in die Länge. Das mit bunten Fantasiefiguren besprühte Spielmobil macht hier jeden Dienstag Station. Es ist fast bis unters Dach mit Spielzeug beladen. Hula-Hoop-Reifen, kleine Gokarts mit Pedalen, Springseile, Balken und Kästen zum Balancieren und ganz viel Bastelmaterial laden Mittenzwei und ihre Kolleginnen aus.

Negative Energie

Seit vielen Jahren besucht das Team des Vereins Spieltiger die Unterkunft Kroonhorst des städtischen Sozialträgers Fördern und Wohnen. In 65 Wohnungen leben hier viele wohnungslose Familien und Asylbewerber aus unterschiedlichen Kulturen, darunter rund 130 Kinder und Jugendliche. Das enge Zusammenleben löse oft Spannungen aus, glaubt Mittenzwei. Gerade für Kinder seien der Platzmangel in der Stadt und die unsichere Lebenssituation ein Problem. „Fast alle Menschen hier in der Unterkunft sind in einer Notlage“, sagt die 26-Jährige. Oft sei unklar, wie lange die Familien aus Afghanistan, Palästina, Serbien, Tschetschenien oder Armenien blieben. Viele wollten raus aus Osdorf. „Die Energie hier ist negativ“, sagt Mittenzwei, die schon während des Studiums beim Spieltiger gejobbt hat und heute eine von zwölf festangestellten MitarbeiterInnen des Vereins ist.

Auch die neunjährige Princess fühlt sich nicht wohl. „Es ist schmutzig und manchmal pinkeln Leute ins Treppenhaus“, sagt sie. Nach der Schule werden der Viertklässlerin die Tage lang. „Die Kinder bleiben meistens zu Hause“, sagt Princess. „Manchmal schaukeln wir, aber oft ist es langweilig.“ Die wöchentlichen Spieltigereinsätze sind ein kleines Highlight. Jeden Dienstagnachmittag verwandelt sich das Rasenstück zwischen den Häusern samt Parkplatz und den umliegenden Bäumen für drei Stunden in einen großen Spielplatz. Princess schnappt sich gleich ein Paar Stelzen, zeigt einem anderen Mädchen, wie man damit läuft. Andere Kinder balancieren auf einem Balken oder schaukeln in der blauen Plastiktonne, die die Frauen an einem dicken Tau in die Bäume gehängt haben. „Wir zeigen den Kindern, dass sie sich den Raum zum Spielen einfach nehmen können“, sagt Mittenzwei. „Gerade an Orten, die nicht zum Spielen einladen.“

Orte wie die Zentrale Erstaufnahme für Flüchtlinge in der Schnackenburgallee. Oder die als Notunterkunft neu errichtete Zeltstadt auf dem „Parkplatz Braun“ neben dem HSV-Stadion, die auch zu den Einsatzorten des Vereins gehört. Insgesamt fährt der Spieltiger 16 Unterkünfte von Fördern und Wohnen und Stadtteile mit mittlerweile vier Trucks an. In der Erstaufnahme ist die Umgebung gerade für Kinder schwierig. „Noch mehr Menschen auf noch engerem Raum“, sagt Mittenzwei. Rund 120 Kinder zählt der Verein dort an einem durchschnittlichen Spieltiger-Nachmittag – in Osdorf sind es nur 50. Gespielt wird draußen auf einer Wiese, aber der Platz dafür schrumpfe mit den steigenden Flüchtlingszahlen in der Hansestadt. Immer mehr Zelte und Container würden aufgestellt, sagt Mittenzwei. „Wir wollen deshalb bald vor dem Zaun der Unterkunft spielen, uns mehr Raum nehmen.“

Mehr Raum nehmen

Für viele der Kinder hat die Flucht gerade erst geendet. Sie sind traumatisiert. Kaum jemand spricht Deutsch und meist gibt es auch sonst keine gemeinsame Sprache. Irgendwie klappt die Verständigung trotzdem. „Spielideen sind oft interkulturell“, sagt Mittenzwei. Fangen, Jagen und Werfen könne jedes Kind. „Es dauert keine zwei Minuten, dann wissen auch die Kleinsten, was zu tun ist.“ Trotz vieler traumatischer Erfahrungen hätten sie keinerlei Berührungsängste. „Das merkt man eher den Erwachsenen an. Kinder können für den Moment völlig vergessen, wenn sie spielen.“

Irgendwelche Einschränkungen soll es beim Toben nicht geben, Regeln nur zwei: „Jeder darf mitspielen, und keine Gewalt“, sagt Spieltiger-Mitarbeiterin Dietlind Klocke. Das klappt mal besser und mal schlechter. „An manchen Tagen müssen wir nur Pflaster kleben und trösten“, sagt die 57-Jährige. Trotzdem sorgten sie dafür, dass auch in den Köpfen der Kinder Grenzen fielen und sie einander kennenlernten. „Wir schaffen hier Kinderöffentlichkeit“, sagt Klocke, die schon seit neun Jahren jede Woche nach Osdorf kommt. „Vorher kannten sich die Kinder gar nicht beim Namen, es hieß nur ‚die da‘“, erinnert sich die Sozialpädagogin. Beim Spieltiger lernen die Kinder ein soziales Miteinander und stärken ihr Selbstverstrauen. Seit 25 Jahren ist das das Ziel des Vereins, der von der Behörde für Soziales, Familie und Integration finanziert wird. In diesem Jahr ist großes Jubiläum.

„,Ich kann das nicht‘, lassen wir nicht gelten“, sagt Klocke. Die Kinder sollen sich ausprobieren. „Hier können sie einfach Kind sein“, sagt auch Jessica Bessaoudi. Sie wohnt mit ihren vier Töchtern und einem Enkel in der Unterkunft und ist froh über den Besuch in ihrem „Ghetto“, wie sie es nennt. „Da müssen wir nichts beschönigen, es ist die schrecklichste Umgebung, in der Kinder aufwachsen können.“ Immer mal wieder komme es zu Streit oder gar Messerstechereien. Wenn der Spieltiger da sei, habe sie auch als Mutter einen Tag in der Woche, an dem sie nicht so sehr aufpassen müsse. „Und was die alles anschleppen in diesem Wagen, ist Wahnsinn“, schwärmt Bessaoudi – vergangene Woche sogar eine Hüpfburg. In den Ferien organisiert der Verein zusätzlich Ausflüge: zum Bowlen, ins Schwimmbad oder an die Elbe. Jedes Kind zahlt einen Euro, das kann sich jede Familie leisten. „Die Kinder haben oft keine Idee von ihrer Stadt“, sagt Mittenzwei. „Sie kommen kaum aus diesem Viertel raus.“

Es bleiben Kreidestriche

Auf dem Parkplatz heißt es jetzt abbauen. Noch ein kleines Abschlussspiel im Sitzkreis, dann sind die drei Stunden Spieltiger-Einsatz wieder vorbei und der bunte Laster fährt vom Hof. Viel zu schnell ging das, findet Princess. Nur ein paar dicke orangefarbene Kreidestriche für ein Spielfeld bleiben bis zum nächsten Regen auf dem Asphalt zurück. „Wir hoffen, dass die Kinder einfach zusammen weiterspielen“, sagt Klocke. Dann hat das Konzept funktioniert.