Die in die Tiefkühltruhe steigt

Die Zigarette schief im Mundwinkel: Armin Petras inszeniert „Fräulein Smilas Gespür für Schnee“ am Hamburger Thalia Theater

Beim Spielen ist der Junge vom Dach des Wohnblocks gestürzt. Ein tragischer Unglücksfall, glaubt die Polizei. Nichts weist auf Mord hin. Wozu auch Mord an einem kleinen Jungen grönländischer Herkunft? Smilla aber kombiniert aus den Spuren im Schnee und ahnt dunkle Machenschaften. Dubiose Pathologen und redselige Angestellte durchschaut sie wie James Bond und Sherlock Holmes in Person. Am Ende deckt sie nicht nur die Hintergründe des Mords auf, sondern auch die geheime Existenz eines Meteorits, der in die Arktis eingeschlagen ist. Ganze Arbeit, Null Null Smilla.

Die Superdetektivin ist aber nur die eine Seite jenes berühmten Fräuleins Smilla aus Peter Høegs Bestseller, mit der Armin Petras jetzt auch auf der Bühne des Thalia Theaters verführen will. Smilla trägt auch die Züge einer eigenbrötlerischen Außenseiterin. Ihrer Heimat Grönland fühlt sie sich entwurzelt. In der Großstadt, in der sie jetzt lebt, bleibt sie eine Fremde. Mit jedem Ermittlungsschritt erinnert sie sich ein Stück mehr an die Kindheit, deren frühe Verluste schmerzhaft ans Tageslicht treten. In einer der rührendsten Szenen des Abends hört sie sich vom Tonband ihre eigene Stimme an, die von der Mutter erzählt: Staunend steht Smilla dann da, misstrauisch, verloren, mit der Zigarette schief im Mundwinkel.

Die Inszenierung bewegt sich in Smillas kleiner Schachtel-Wohnung. Rechts Bett und Schreibtisch, links eine Küchenzeile und ein hinter Glas beleuchtetes Foto von Eisbergen. Alles ist kuschelig weiß wie aus dem Ikea-Katalog eingerichtet, so dass man sich optisch erst mal an die Smilla der Susanne Wolff gewöhnen muss, die dort schläft, trinkt und raucht: mit schwarzer Perücke, grün-blauem Lidschatten, silbernen Lurexfäden im Pullover. Ein verlotterter Vamp und gleichzeitig Schwester im Geiste jener skandinavischen Ermittler, die fast an der Grenze zur manischen Depression agieren: von schweigsamer Traurigkeit, dann von plötzlicher Überagilität.

Vielleicht liegt es daran, dass Smilla in ihrer kleinen Wohnung die Natur abhanden gekommen ist. Die letzten Reste lagern in einer großen Tiefkühltruhe: Schnee. Der Stoff, aus dem ihre Träume sind. Zum Liebesakt steigt sie mit ihrem Nachbarn in die weiße Truhe, als sei das der Ort, der ihr Herzenswärme schenkt. In den Schnee legt sie sich auch zum Selbstmord. Der Nachbar rettet sie, und im Schneeflockenwirbel sieht es für einen Moment nach einem Happy End aus. Man ahnt, aber erfährt es doch nicht so recht, dass der tote Junge und die zu früh verstorbene Mutter Schatten werfen, die mächtiger sind als die Zuneigung des Nachbarn.

Für diese einsame Schneekönigin ist Petras, seit einem halben Jahr Leiter des Berliner Maxim Gorki Theaters, wieder an die Studiobühne des Hamburger Thalia Theaters zurückgekehrt. Hier entstand mit „Fight City. Vineta“, „zeit zu lieben zeit zu sterben“ und „We are camera“ die Trilogie aus Fritz-Kater-Stücken, die von brüchigen Familiengemeinschaften und Verlust von Heimat erzählt und für die man Petras liebt. Die Hoffnung, dass er an deren leichthändige und dichte Verbindung der Motive mit „Fräulein Smilla“ anknüpft, erfüllt sich jedoch nicht. Smillas Elend ist zu dick aufgetragen, während der Thriller ohne sinnvolle Verbindung zu Smillas Leben nacherzählt wird. Am Ende entpuppt sie sich als wenig feinfühlig in Liebesangelegenheiten. „Heiratest du mich oder gehst du jetzt wieder in deine Single-Wohnung runter?“, fragt sie patzig nach dem Liebesakt. Was als Slapstick Distanz schaffen soll, offenbart, dass Petras mit Smillas sinnlichen wie übersinnlichen Fähigkeiten dann doch wenig anzufangen wusste.

Der Schauspieler Peter Jordan hat es folglich leichter, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er schlüpft in alle restlichen Rollen. Hat als steifhüftige Buchhalterin die Lacher auf seiner Seite und switcht als Jekyll and Hyde vom verrückten zum vernünftigen Wissenschaftler. Seine Anstrengungen sind auch Balzspiele, um das ewige Fräulein zu seiner Frau zu machen. Er serviert ihr sogar den Meteorit als großen Schneeball auf einem silbernen Tablett – vergeblich. Das Fräulein ist depressiv, aber dennoch cold as ice.

„Eines kann man unter anderem vom Schnee lernen: dass man die großen Kräfte und Katastrophen immer im Kleinformat im Alltag wiederfindet“, heißt es in der Romanvorlage. Eine Lawine ist der Abend nicht. Ein paar Schneeflocken finden sich darin, immerhin. SIMONE KAEMPF