Die Sendung mit Knut

Die Neugier des Publikums auf Eisbär Knut und seinen Pfleger lässt nicht nach. Sind daran wirklich nur die Medien schuld? Aber nein. Tatsächlich ist Knut eine perfekte Übungsdoku – für Eltern und Kind

VON JAN FEDDERSEN

Ein kleiner Eisbär als Standortfaktor: Das hätte sich Berlin und sein Zoo auch nicht vorstellen können. Und wie andere Städte jetzt „Ist das gemein, wir haben auch ein Tierbaby!“ schreien: Ob sie den Nachwuchs einer Elefantenfamilie preisen oder den Säugling eines Rüsselbärs – nichts kommt gegen den niedliche Knut aus dem Tierpark am Bahnhof Zoologischer Garten an. Was dieser Kleine allen voraushat, ist eine mit menschlichen Angst- und Rettungsfantasien leicht anreicherbare Geschichte. Die Mutter – das Kind verstoßen, den Bruder zu Tode gebracht; ein Ersatzvater – der sich kümmert, hingebungsvoll, mehr, als jede Gewerkschaft im Kampf gegen Überstunden wohl erlaubt; eine Schar von Bewunderern – die jeden Schritt ins Leben mit sorgenvollster Gewogenheit verfolgen.

Jüngst schaffte Knut es gar aufs Cover der amerikanischen Vanity Fair – wenn auch nur als Deko zu Füßen von Leonardo DiCarpio. Chronische Meckerer mussten sich von Klaus Wowereit gar abwatschen lassen. Auf die Frage, ob der Bürgermeister nicht die Konkurrenz des Eisbärkindes in der öffentlichen Gunst fürchte, antwortete er launig: „Knut wird älter und größer und gefährlicher, aber ich werde kuscheliger.“

Fast befriedigt nimmt der Nachrichtensender n-tv eine Umfrage zur Kenntnis, der zufolge nur noch jeder Dritte sich für Berichte über den weißpelzigen Kinderbären freut. Was heißt nur noch jeder Dritte? Eine Quote, über die sich die meisten Politiker extrem freuen würden – aber wahr ist auch: Jeder Zoobesucher wünscht sich die Eisbärwaise klein und knuddelig. Schon das Bekenntnis des Pflegemenschen (Vater?, Mutter? – gendermäßig einerlei) in der Frankfurter Rundschau, „manchmal könnte ich ihn an die Wand schmeißen“, weil Knut nachts ihm die Hütte vollscheiße und dauernd unausgeglichen sei, also Hunger hat und Nähewünsche, weckte Volkes Zorn: Darf man so über Knut reden? (so der entsetzte Tenor der Groschenpresse wie B.Z. und Bild-Zeitung). Übertragen auf die Gemüter des Publikums heißt dies: Darf man so über Babys, über Beschützenswerte reden?

Denn all die Berichte und Erzählungen über den Eisbären sind eigentlich Fantasiereflexe. Am Beispiel von Knut wird in einem in die Zoologie verschobenen Diskurs das Thema Kinder und Erziehung, Schutz und Enttäuschung, Neid und Eifersucht, Vertrauen und Alleinsein, Trennung und Schmerz intensiv erörtert. Wir, das Publikum, erkennen: So stiftet sich Bindung, nicht über Rockzipfelei, sondern über die Erfahrung der Präsenz des Anderen, also in diesem Fall des umsichtigen Pflegers Thomas Dörflein. Also über einfaches Dasein, über Nahrung, über Hautkontakt, über Schmuserei, über die Stillung von Gier (wiederum Hunger & Nähe) – und die Angst, nie wieder etwas zu essen zu bekommen. Das gebiert Aggressivität, Angriffslust und eine Art von rohem Willen, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln (es sind freilich nicht viele) an Lebenswichtiges zu kommen.

Das ist natürlich putzig anzusehen, das mögen die Millionen von Zuschauern (ob, wie gestern wieder, im Berliner Zoo oder am Fernseher) – das bedient die Lust an Rivalität („Mama, der Junge hat gesagt, er hätte Knut schon mal gestreichelt, der lügt doch, oder?“, „Papa, du musst auch Tierpfleger werden“) und die Lust an Anschauungsmaterial für die eigene Brutpflege.

Trotzdem wird die Liebe zu Knut abebben, und das liegt dann nicht an Übersättigung medialerweise – sondern am Sattsein, das einem auf den Magen schlägt, wenn die Wirklichkeit härter ist. Denn Knut kackt wirklich alles voll – und anders als Hunde werden Eisbären nicht stubenrein; er wird, gut ödipal, irgendwann gegen seinen Vater rebellieren, und sei es mit Schlägen. Ein Konflikt, den allerdings, schon der schwächeren Menschenphysis wegen Knut schnell für sich entscheiden wird.

Der kleine Eisbär wird also so ungemütlich normal wie alle Lebewesen, menschliche vor allem. Sie lieben und hassen, sie spielen und täuschen, sie sind nicht mehr artig und schon gar nicht immer vertrollt. Dann mosern die Eltern mehr oder weniger krass über die Textilien, die ihre Kleinen sich im Baggermatsch versaut haben, über fehlende Autorität und Ohren, die nicht hören wollen. Das hat Knut alles vor sich. Insofern hat Klaus Wowereit mindestens in einer Hinsicht recht: Knut wird gefährlich und stark. Ob er selbst kuscheliger wird, steht dahin. Mag sein, dass er meint, im Alter milder zu werden. Entwicklungspsychologisch ist in dieser Hinsicht nichts im grünen Bereich: Es gibt Alte, die schmusig werden – und andere, die böse und garstig werden. Kindern mit dem Gehstock in die Fahrradspeichen stochern, die Enkel gegen die eigenen Kinder aufhetzen.

Das aber sind kulturell geprägte Charakteristika menschlicher Fähigkeit zum Guten wie Bösen. Knut will immer nur essen und trinken – und soll, sagt Thomas Dörflein, irgendwann Nachwuchs zeugen. Das sei nicht schwer. Und wenn er keine Lust hätte?