„Sie werden das Gefühl nicht los, Opfer zu sein“

STANDPUNKT Ein russischer Friedensaktivist über seine Erfahrungen mit Ein-Mann-Protesten und über die Haltung seiner Landsleute

■ ist Physiker im Staatsdienst – spezialisiert auf theoretische Physik. Als Aktivist der Bewegung „Solidarnost“ beteiligt er sich seit einiger Zeit an Mahnwachen gegen den Krieg in der Ukraine.

Wer in Russland zu einem Solo-Protest auf die Straße geht, braucht das vorher nicht bei den Behörden anzumelden. Er oder sie darf sich dann aber nicht von der ursprünglichen Stelle wegbewegen und auch keine technischen Geräte und Lautsprecher benutzen. Plakate sind erlaubt. Zwischen Einzel-Protestierern muss ein Mindestabstand von 50 Metern gewahrt werden.

Herr Laschkewitsch, was bedeutet der Ukrainekrieg für Sie persönlich?

Michail Laschkewitsch: Russland greift einen Nachbarn an, verübt einen Akt der Aggression. Ich schäme mich aber auch, weil so viele meiner Landsleute diesen Krieg aktiv unterstützen.

Steht die Bevölkerung tatsächlich so geschlossen hinter der Kriegspartei?

Die Umfragen waren ziemlich eindeutig und die Atmosphäre in der Gesellschaft spiegelt das auch wider. Ich habe das bei meinen Ein-Mann-Protesten im Sommer selbst erlebt. Im Mai und Juni reagierten die Passanten auf unsere Mahnwachen sehr aggressiv. Niemand wollte darüber reden oder sich auch nur informieren. Mittlerweile hat sich das ein wenig geändert. Jetzt kommen Menschen häufiger auf uns zu und wollen reden. In letzter Zeit sind es vor allem bestellte Provokateure, die aggressiv werden.

Greifen die Rolltrupps Sie an?

Das kommt vor, manchmal hat uns die Polizei sogar vor wütenden Schlägern geschützt. Häufiger wurden wir allerdings festgenommen, obwohl das Gesetz Ein-Mann-Wachen ausdrücklich erlaubt. Die Polizei ist überzeugt, dass wir für unsere Aktionen bezahlt werden. Dass man aus freien Stücken gegen Krieg demonstriert, können sie nicht begreifen.

Hätten Sie vor einem Jahr gedacht, dass Russland einen Krieg vom Zaun bricht?

Nein, ich habe nichts vorausgesehen. Die Krim-Aktion war jedoch außerordentlich effektiv und durchdacht. Die Ukraine hatte überhaupt keine Chance, sich zu wehren. Für den Erfolg war es wichtig, dass kein Schuss fiel. Viele hofften daher, dass das Verhältnis zur Ukraine friedlich bleiben würde. Es war diese unblutige Annexion, warum die Russen Putin auch weiter unterstützten. Die Mehrheit sieht in der Einverleibung jedoch nur einen Akt der Gerechtigkeit, da die Krim schon immer zu Russland gehört hätte. Historisch trifft das ja nicht zu. Die westlichen Teile Russlands waren in den 1920er Jahren ukrainisch.

Warum sind so viele Russen von der territorialen Frage wie besessen?

Sie haben den Zusammenbruch der Sowjetunion als eine persönliche Tragödie erlebt und leiden bis heute darunter. Daher stammt auch die Frustration gegenüber der Ukraine. Sie werden das Gefühl nicht los, Opfer zu sein. Das autoritäre Regime unterstützt diese Wahrnehmung, da sich die Menschen inzwischen wieder rechtlos und ausgeliefert fühlen. Sie fürchten Übergriffe des Staates oder krimineller Gruppen, die jederzeit stattfinden können. Keiner weiß, wie er sich dagegen schützen kann. Die Hilflosigkeit fördert das Bedürfnis nach Identifikation. In der Größe des Staates wird dann die persönliche Einfluss- und Bedeutungslosigkeit kompensiert.

Sprechen Sie mit Kollegen über Ihre Aktionen?

Nur mit Freunden. Aber ich mache vor anderen kein Geheimnis daraus. Die gesellschaftliche Atmosphäre lässt eine breitere Diskussion noch nicht zu. Neulich habe ich im Hauseingang ein Plakat aufgehängt, das sofort abgerissen wurde.

Ist der Rückfall in die Isolation Russlands von Dauer?

Ich sehe keine Kursentschärfung. Dafür müsste der Präsident zurücktreten, abgesetzt oder von Massenprotesten gestürzt werden. Damit rechne ich vorerst nicht. Mir scheint, Putin kann auch nicht nachgeben. Er denkt ausschließlich in Kategorien von Schwäche und Stärke. Was anderes kennt er nicht. Ehrlichkeit, Nachsicht oder Barmherzigkeit sind ihm fremd.

Hat die Gesellschaft keine Angst vor isolationistischen Maßnahmen?

Viele verstehen noch nicht, was auf sie zukommt und was das für sie persönlich bedeuten könnte. Sie haben keine Vorstellung von der wirtschaftlichen Abhängigkeit Russlands. Noch hat Putin für diesen Kurs genügend Rückhalt in der Bevölkerung. Das kann sich aber augenblicklich ändern. Wir müssen uns nicht auf Jahrzehnte, aber wohl auf einige Jahre autoritäre Herrschaft einstellen.

Denken Sie an Emigration?

Ich denke drüber nach, habe aber noch keine Entscheidung gefällt. Ich möchte, dass meine Kinder in einer menschlicheren Umgebung aufwachsen. Vielleicht muss ich mich bald entscheiden.

INTERVIEW: KLAUS-HELGE DONATH