Chinesen und ein Philosoph an Bord

Jäger von Wirklichkeiten: Von Einwanderern, Taxidermisten, Gigolos und vom Zugang zur Welt durch den Film handelt das Festival „Britspotting 07“

VON EKKEHARD KNÖRER

Keine Frage: Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek ist der spektakulärste Specialeffect, den das diesjährige „Britspotting“- Festival zu bieten hat. Zweieinhalb Stunden lang betätigt er sich in Sophie Fiennes’ „The Pervert’s Guide to Cinema“ (2006) als hyperaktiver, manischer, mit dickem Akzent englische Wortsalven gen Kamera schleudernder Reiseführer durch die Filmgeschichte.

Der Titel führt dabei leicht in die Irre. Denn gewiss lernt man manches übers Kino, insbesondere über Lieblingsstellen in Lieblingsfilmen von Lieblingsregisseuren des Philosophen – Hitchcock, Lynch, Chaplin, Tarkowski; viel eher noch handelt es sich aber um einen hoch unterhaltsamen Crashkurs in jener Spielart lacanianischer Psychoanalyse, die Žižek in unermüdlicher Anwendung auf alle denkbaren und undenkbaren Gegenstände in Theoriekreisen populär gemacht hat.

Žižek redet – und Fiennes (die Schwester von Joseph und Ralph) hält mit seiner Hilfe einfallsreich dagegen. So versetzt sie den „Talking Head“ als „Talking Body“ in den jeweils besprochenen Filmen nachempfundene Kulissen. Žižek rudert übers Wasser wie Tippi Hedren in Hitchcocks „Birds“; er sitzt wie die „Psycho“-Mumien-Mama im Keller. Er fuchtelt mit den Händen, rollt die Rs und die Augen und produziert unaufhörlich spekulative Deutungen zu einschlägigen Stellen der Kinogeschichte. Vor allem auf einer These insistiert er immer wieder von neuem: Erst in den filmischen Ausgeburten unserer Fantasie bekommen wir Zugang zu den Wirklichkeiten des Menschen. Die Wahrheit über unseren Bezug zur Welt finden wir in unseren Träumen – den Albträumen vor allem –, nicht in der Dokumentation und Abbildung alltäglicher Wirklichkeit.

Mit dem größten Teil der anderen „Britspotting 07“-Filme wüsste Žižek deshalb mutmaßlich wenig anzufangen. Denn mit der Ausnahme von Terry Gilliams Groteske „Tideland“ (2006) dominieren die realistischen Register. Nick Broomfield, der als eigensinniger Dokumentarist („Kurt & Courtney“) fast schon eine britische Institution ist, erzählt in seinem Spielfilm „Ghosts“ (2006) die auf einer wahren Begebenheit beruhende Geschichte von 23 illegalen chinesischen Immigrantinnen und Immigranten, die bei ihrer Arbeit als Muschelsammler am Strand von der Flut überrascht wurden und ertranken. Broomfield orientiert sich in seiner Darstellung des Transportwegs von China nach Großbritannien offenkundig an Michael Winterbottoms „In this World“, erreicht allerdings nie die Intensität dieses Films.

Mit dokumentarischer Nüchternheit konzentriert sich der fast vollständig in Mandarin gedrehte „Ghosts“ auf das Schicksal der jungen Mutter Ai Quin (Ai Quin Lin), die ihren jungen Sohn in China zurücklassen muss, um in England mit Drecksarbeiten das Geld für eine erhoffte erfolgreiche Zukunft zu verdienen. Jeden Abend telefoniert sie mit ihm, aber über ihr wahres Leben in der Fremde, kujoniert, unterbezahlt, mit anderen Illegalen zusammengepfercht und trotzdem schrecklich einsam, schweigt sie.

Eine ähnliche Geschichte erzählt der Eröffnungsfilm „True North“ (2006) von Stephen Hudson, der sich fast völlig auf ein Fischerboot als Schauplatz konzentriert. Weil die Geschäfte schlecht gehen, nimmt der Sohn Sean (Martin Compton) ohne Wissen seines Vaters (Gary Lewis), aber unterstützt vom trinkfreudigen Fischer Riley (Peter Mullan), illegale chinesische Einwanderer zur Überfahrt von Calais nach England an Bord. Als das Boot in ein Unwetter gerät und einer der Chinesen stirbt, nehmen die Ereignisse eine furchtbare Wendung. Zwar ist „True North“ so konventionell erzählt wie gefilmt, beeindruckt zuletzt aber durch die Konsequenz, mit der die Geschichte an ihr bitteres Ende geführt wird.

Als auf ganz andere Weise entsetzlich entpuppt sich Morgan Matthews’ Dokumentarfilm „Taxidermy – Stuff the World“ (2005) über die Weltmeisterschaft der Taxidermisten. Was zunächst nach einer Studie über skurrile Typen mit einem etwas abseitigen Hobby aussieht, entwickelt sich eher unvermittelt zur kaum erträglichen Darstellung durchgeknallter Jäger, die für ein Stück Fell munter über Tierleichen gehen.

Der ästhetisch überzeugendste Spielfilm der diesjährigen „Britspotting“-Ausgabe ist freilich Richard Bracewells vielversprechendes Debüt „The Gigolos“ (2006). Mit dokumentarischer Anmutung und schöner Beiläufigkeit erzählt er von Trevor (Trevor Sather) und Sacha (Sacha Tarter), zwei Männern im Escortbusiness, hervorragend gespielt von den Drehbuchautoren. Lange beobachtet der Film, ohne groß einen Plot daraus zu entwickeln, wie sie im nächtlichen London ihrem Geschäft der Begleitung wohlhabender älterer Damen nachgehen (umwerfend: Susannah York). Dann kommt es zum Zwist zwischen den beiden Gigolos, der Film schildert ihn mit subtiler Komik. Ein politisches Anliegen hat „The Gigolos“ nicht, aber einen sehr eigenen, im britischen Kino so noch nicht gesehen Stil.

Britspotting 07, 19.–25. 4., Kino Acud, Filmtheater Hackesche Höfe, fsk-Kino am Oranienplatz. www.britspotting.de