Fränkische Mondlandung

Warum ein Fußballspiel in Nürnberg so viel Glück auslöst – und warum es egal ist, wer das Pokalfinale gewinnt

Um kurz vor halb elf am Dienstagabend hält es der Dieter nicht mehr aus. „So, es reicht, war super, aber jetzt schalt um“, ruft er dem Wirt zu. „Schalt das echte Fernsehen ein.“ Was auf der großen Leinwand im kleinen Frankenstüble in Berlin zu sehen ist, kann der Dieter schlicht nicht glauben. Es ist zu schön. Nürnberg, behauptet der Reporter, führt 3:0. Im Pokalhalbfinale, kurz vor Schluss. „Oh, wie ist das schön“, singen 45.000 im Stadion. Doch der Exil-Nürnberger Dieter hält sie alle für Statisten. „Das ist doch ein Film!“, schreit er. Der Wirt schaltet aber noch nicht um, er bringt noch ein Bier. Und im Fernsehen fällt das 4:0. Dieter gibt auf. Er gibt sich hin. Er singt mit. „Oh, wie ist das schön, so was hat man lange nicht gesehen.“ Das Lied ist eine Untertreibung. So was haben Nürnberger, die nach der letzten Meisterschaft 1968 geboren wurden, überhaupt noch nie gesehen.

Es ist nicht lange her, da war der Verein, der wegen seiner ruhmreichen Vergangenheit nur „der Club“ heißt, noch in der dritten Liga. Daran können sich alle gut erinnern, das kommt jetzt alles wieder hoch, wenn die Reporter plötzlich Lobreden schwingen. Keiner lacht, als der kleine Präsident Michael A. Roth, der Teppichhändler, mit glühenden Bäckchen sagt: „Ein Wunder ist geschehen.“ Selbst Hans Meyer, der Trainer, der Stoiker, der Harald Schmidt des Fußballs, dreht rhetorisch durch: „Wenn du im Pokalfinale stehst, nimmt dich die ganze Welt wahr.“

Dieter glaubt jetzt, dass es kein Film war. Er hat Geschichte live gesehen. Die fränkische Mondlandung. Er zündet eine der Wunderkerzen an, die der Wirt verteilt hat. Die Clubhymne erklingt: „Die Legende lebt“.

Teppich-Roth bringt die Sache auf den Punkt: Die vielen bitteren Niederlagen, sagt er, haben sich gelohnt. Genau so ist es. Nur wer diesen Satz versteht, versteht, warum die Franken die glücklichsten Menschen sind. Sie wollen gar nicht oft gewinnen. Sie wollen bleiben, was sie sind: ein bescheidenes Völkchen, das von Menschen mit bescheidenen Fähigkeiten wie Markus Söder, nun ja, repräsentiert wird. Es macht ihnen nichts aus, dass sie nur manchmal oben mitspielen. Dass der Nürnberger Günther Beckstein höchstens Übergangsministerpräsident werden wird.

Die Franken träumen gern. Sie wollen nicht reich und satt wie die Bayern sein. Sie wissen: Nur wer oft verliert, kann sich über Siege richtig freuen. Es wäre deshalb auch egal, wenn das Finale verloren geht. Die Franken wissen: Wenn ein Traum in Erfüllung geht, ist er vorbei.

LUKAS WALLRAFF