LESERINNENBRIEFE
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Betonmauer aus Ignoranz

■ betr.: „Inklusion. Rollstuhlfahrer muss in der Heimat bleiben“, taz vom 18. 9. 14

Ich weiß gar nicht, über wen ich mich mehr aufregen soll: über die ignorante Landtagsverwaltung oder über die NRW-Piratenfraktion. Letztere schreibt sich doch auf die Fahne, man wolle keine Unterschiede zwischen Männlein, Weiblein und nicht zu definierendem Geschlecht machen. Aber zwischen Behinderten und Nichtbehinderten zieht man offensichtlich die Trennlinie „anstrengend/unkompliziert“. Wenn die Fraktion sagt, sie halte sich da raus, heißt das doch nichts anderes, als dass es ihnen zu anstrengend ist, sich für ihren eigenen Fraktionskollegen starkzumachen.

Und die Landtagsverwaltung rühmt sich, Herrn Fricke unter großem finanziellen Aufwand eine eigene Dusche plus Toilette eingerichtet zu haben? Mir kommen vor Rührung die Tränen. Wenn die dafür keine Zuschüsse bekommen haben, heißt das nichts anderes, als dass sie die Schwerbehindertenquote in ihren Mitarbeiterreihen nicht erfüllen. Ja, dann müssen sie eben ein bisschen in die Tasche greifen, um das im SGB IX sehr klar und eindeutig formulierte Recht umzusetzen. Wahrscheinlich fehlt es den Betreffenden für die Organisation Zuständigen schlicht an der nötigen Fantasie, um sich zu überlegen, wie man die erforderliche Unterstützung organisiert.

Kleiner Tipp: Fragt doch mal bei Herrn Schäubles Team an. Oder fragt Herrn Quasthoff, wie der seine Reisen an all die Auftrittsorte für seine Konzerte organisiert hat. Oder noch einfacher vielleicht: Fragt doch einfach mal Herrn Fricke selber. Der lebt ja nicht erst seit gestern mit seiner Behinderung und weiß vermutlich am besten, wie es gehen könnte. Schade, dass Stefan Fricke kapituliert hat, aber angesichts dieser Betonmauer an Ignoranz kann ich ihn gut verstehen. REGLINDE BEHRENDS, Berlin

Ein erschreckender Artikel

■ betr.: „Die neue Burger-Partei“, taz vom 19. 9. 14

Ein erschreckender Artikel, was Positionen einiger Führungsgrüner betrifft, selbst wenn man hoffnungsvoll annimmt, die Zitate seien völlig aus dem Zusammenhang gerissen.

Man könne dem Wähler nicht die Verantwortung zur Lösung globaler Probleme aufbürden (v. Notz). Natürlich nicht! Der Wähler gibt schließlich seine Verantwortung mit dem Stimmzettel ab. Um die Probleme müssen sich da schon die Eliten kümmern. Das ist ein Bild von unmündigen Untertanen, das eher ins 17. Jahrhundert passt. Und schließlich: Ein guter Grüner kaufe nicht notwendig im Biomarkt ein – auch Jäger, Burger-Esser und Porsche-Fahrer könnten grüne Ziele teilen. Was will uns das sagen? Dass es Bioprodukte auch bei Aldi gibt? Oder dass es nicht zum grünen Selbstverständnis gehört, beim Einkauf auf Nachhaltigkeit zu achten? Wofür stehen Jagd, Burger, Porsche? Dass man nicht immer konsequent sein muss (Binsenweisheit)? Dass man mit gutem Gewissen Porsche fahren kann, wenn man zum Beispiel nicht fliegt? Und was Freiheit betrifft: In wie vielen Kantinen habe ich jeden Tag die Freiheit, ein vegetarisches Gericht zu essen oder gar ein veganes? Und was ist mit den schwierigeren Themen? Präimplantationsdiagnostik? Sterbehilfe? Da wäre eine Freiheitsdebatte wichtig. SILKE KARCHER, Berlin

Keine Erfindung der Neuzeit

■ betr.: „Wir haben die Absicht, eine Mauer zu errichten“, taz vom 19. 9. 14

Das Errichten von Mauern ist ja keine Erfindung der Neuzeit, sondern kann auf eine lange Historie zurückblicken. Seit den ersten stadtähnlichen Siedlungen wurden diese mit mächtigen Stadtmauern umgeben. Der erste inschriftlich überlieferte Bau einer Mauer außerhalb von Städten ist aus dem mesopotamischen Zweistromland bekannt. Der sumerische König Schulgi errichtete in seinem 37. Regierungsjahr im Jahr 2056 v. Chr. eine „Mauer des Landes“. In die Annalen eingegangen ist dieser Mauerbau, weil er dieses Regierungsjahr nach dem Mauerbau benannte, eine Art Datum in der damaligen Zeit. Und einer seiner Nachfolger baute wiederum eine Mauer, diesmal die „Amurriter“-Mauer, die nomadische Ethnien aus dem Westen und Norden fernhalten sollte.

HELGA SCHNEIDER-LUDORFF, Oberursel

Die Mauer muss weg

■ betr.: „Wir helfen nur uns selbst“, Kommentar von Lukas Wallraff, taz vom 19. 9. 14

Die eigene Betroffenheit ist die einzige Motivation, die zum Handeln taugt. Was denn sonst? Wenn wir selber leiden, schaffen wir Abhilfe und verstehen uns auf Lebensqualität. Aber wir bauen mit viel Fleiß an der Mauer zwischen uns, die wir nicht leiden wollen, und den anderen, die leiden müssen. Die Mauer muss weg!

Man muss für eine einfache Sache nicht so komplizierte Worte wie Betroffenheit oder so nebulöse wie Mitgefühl oder so gestelzte wie Empathie gebrauchen. Man sollte das einfach schöne Wort Mitleid salonfähig und nicht verächtlich machen. Mitleid bringt es am besten auf den Punkt. Wir sollten die Fähigkeit zum Mitleid loben, fördern, stärken und als das wahrnehmen, was das tiefste Wesen des Menschseins ist und uns glücklich macht. Oder hilft es einer Mutter, die ihr Kind zum Sterben weggeben muss, wenn man ihr sagt, sie solle kein Mitleid haben? In der öffentlichen Polemik wird uns das Mitleid – aus ebenso triftigen wie verwerflichen Gründen – abtrainiert. Wir müssen es uns mühsam wieder antrainieren, um diese menschliche Fähigkeit wieder gebrauchen zu lernen wie unsere Hände und Füße. Dann helfen wir uns selbst. WALTER ZÜHLKE, Marburg