Der Tramp

RAD-WM Mit einem Mountainbike, Hund und Anhänger war der Kanadier Svein Tuft einst unterwegs. Beim Zeitfahren heute zählt der 37-Jährige zum erweiterten Favoritenkreis

■ Der Cottbuser Lennard Kämna holte bei der Straßenrad-WM in Spanien die erste deutsche Goldmedaille. Im Einzelzeitfahren der Junioren sorgte er am Dienstag acht Jahre nach dem WM-Triumph von Marcel Kittel wieder für einen deutschen Sieg. Der 18 Jahre alte Schüler fuhr in Ponferrada über 29,5 Kilometer in 36:13,49 Minuten die mit Abstand beste Zeit. Europameister Kämna war am Dienstag 44,66 Sekunden schneller als der zweitplatzierte Amerikaner Adrien Costa. Platz drei ging an den Australier Michael Storer mit einem Rückstand von 58,11 Sekunden.

AUS PONFERRADA TOM MUSTROPH

Wenn Svein Tuft heute Nachmittag vor dem Start des WM-Einzelzeitfahrens an seine Anfänge als Radfahrer zurückdenken sollte, wird er sich eines Grinsens kaum erwehren können. Denn dann werden im spanischen Ponferrada noch einmal millimetergenau Sattelhöhen festgelegt, die Daten über Rollwiderstände von Reifen abgeglichen werden und die Rennfahrer sich schließlich die wie aus der Weltraumforschung gekommen wirkenden aerodynamisch geformten Helme überstülpen. Statt auf einem eleganten Karbongeschoss saß der in den Wäldern von British Columbia aufgewachsene Kanadier auf einem robusten Mountainbike. Er warf sich in den Morast des Geländes und zog einen Anhänger, in dem seine kompletten Besitztümer sowie sein Hund „Bear“ steckten.

Mit dieser Ausrüstung fuhr er hoch bis Alaska und hinunter bis nach Mexiko. Und er genoss es. „Immer mal wieder haben Leute angehalten und mich angesprochen. Wir haben etwas gequatscht, und die nächste Sache war, dass sie dir ein Essen spendiert haben. Oder du hast ein paar Wochen auf ihrer Farm gearbeitet und etwas Geld gespart für den nächsten Trip. Es war perfekt“, erinnert Tuft sich. Und stellt grinsend Vergleiche mit der Gegenwart an: „Man kann 500 Watt aufbringen und nur 25 km/h machen.“ Beim heutigen Zeitfahren wird Tuft mit ungefähr der gleichen Wattzahl mehr als doppelt so schnell sein müssen, um in die Nähe der Medaillen zu kommen. Ein Unterfangen, das ihm manche Kollegen zutrauen. „Er ist, nach Tony Martin und Bradley Wiggins, einer der ganz starken Jungs für das Zeitfahren“, lobte ihn der Amerikaner Tejay Van Garderen. Van Garderen wurde Sonntag mit dem Rennstall BMC Teamweltmeister im Zeitfahren und verwies – auch dank einsetzenden Regens – Tuft mitsamt dem australischen Orica-Team auf Platz zwei. Tuft war der Motor von Orica und hat als Zugmaschine den indirekten Vergleich mit Omega-Turbo Martin (Dritter) und Sky-Aggregat Wiggins (Platz 4) sogar für sich entschieden.

Viel bildet er sich darauf nicht ein. Und eine Medaillenchance leitet er aus dem Erfolg auch nicht ab. „Ich will mein Bestes tun“, erklärt lediglich der bärtige 37-Jährige, der auf eine lange Karriere zurückblicken kann. Vor sechs Jahren immerhin wurde er schon einmal Vizeweltmeister im Zeitfahren, hinter dem Wittenberger Bert Grabsch. Tuft legte damals die letzten Kilometer mit einem platten Reifen zurück.

Erneut zum Gesprächsthema der internationalen Radsportwelt wurde dieser eigenwillige Tuft, als er 2013 im Alter von 36 Jahren seine allererste Tour de France bestritt und dabei Letzter wurde. Das hatte Charme, auch weil er dort von seinem etwas anderen Vorleben erzählen konnte. Zu den Fahrradtrips mit Hund kamen noch Geschichten als Tramp. „Ja, ich bin damals auch auf Güterzüge aufgesprungen und mitgefahren“, erzählt er der taz, und wieder fliegt ein schelmisches Lächeln über sein Gesicht. „Ich weiß, das ist eine völlig andere Welt als diese hier, wo alles so durchgeplant, perfekt und auf immer hohem Niveau ist. Aber ich bin froh, beide Welten kennen gelernt zu haben, und glaube, dass ich eine gute Balance gefunden habe.“

Gemeinsamkeiten zwischen den Welten gibt es dennoch. „Man muss schon etwas verrückt sein und sich auch schinden können“, meint er. Freude daran, sich total zu verausgaben, hat er immer noch. Jetzt eben nicht mehr mit „Bear“ hintendran, sondern eingezwängt in eine Zeitfahrmaschine und Teil eines Systems, das auf maximale Geschwindigkeit über etwa eine Stunde eingestellt ist. Und wenn Rennfahrerkollegen darüber reden, wie „fokussiert“ sie auf das Rennen seien, wie penibel sie sich vorbereitet hätten, meint Tuft nur: „Ich mache das alles hier so lange, solange ich etwas dabei lerne.“

Gelernt hat er schon einiges. Dreifacher Vizeweltmeister – einmal als Solist, zweimal mit dem Team – ist er bereits. Potenzial für mehr ist da.