DIE CHRISTEN IN DER TÜRKEI MÜSSEN BESSER GESCHÜTZT WERDEN
: Im Visier der Fanatiker

Sind Christen in der Türkei in Gefahr? Diese Frage stellt sich unwillkürlich nach den grausamen Morden an drei Mitarbeitern eines Bibelverlages im südostanatolischen Malatya. Tatsächlich kann man diese Frage auch nicht mehr rundweg mit Nein beantworten. Schien es nach dem Mord an dem katholischen Priester Andrea Santoro noch so, als sei ein verwirrter Jugendlicher im Zusammenhang mit der emotionalen Aufwallung des Karikaturenstreits im Alleingang auf den Priester losgegangen, so muss man angesichts der weiteren Ereignisse feststellen, dass Christen zunehmend ins Visier fanatisierter islamistisch-nationalistischer Kreise geraten sind. Nach Santoro wurden etwa ein weiterer Priester am Schwarzen Meer durch einen Messerangriff verletzt und der armenische Menschenrechtler Hrant Dink ermordet.

In der Türkei hat sich in den letzten drei Jahren eine nationalistisch-islamistische Szene entwickelt, die immer gewalttätiger vorgeht gegen religiöse Minderheiten, aber auch Publizisten und Intellektuelle, die sich für eine freiheitliche, tolerante und nach Europa ausgerichtete Türkei einsetzten. Dabei fühlen sie sich als Vollstrecker einer breiteren nationalistischen Strömung, die die Türkei schon immer als Opfer westlicher Mächte, darunter eben auch westlicher Missionare, gesehen hat. Diese paranoide Weltsicht reicht bis in die Spitze der Armee, wo Generalstabschef Yasar Büyükanit jüngst beklagte, die EU würde durch ihre Forderungen nach Minderheitenschutz Minderheiten in der Türkei erst künstlich herbeireden.

Die amtierende Regierung von Tayyip Erdogan sieht sich dabei zwischen den Fronten. Auch wenn er selbst nicht zu denjenigen gehört, die den homogenen türkischen Volkskörper als höchstes Gut sehen, hat seine Partei genügend Nationalisten in den eigenen Reihen, um nicht offensiv gegen eine solche Stimmung anzugehen. Er hat sich bislang vor dem Problem gedrückt und sich in der Öffentlichkeit weggeduckt. Wenn die Türkei aber nicht zum Paria in der internationalen Gemeinschaft werden will, muss ihre Elite nun die Notbremse ziehen. JÜRGEN GOTTSCHLICH