Bremens Prekariat in Zahlen

Die Statistik der Arbeitnehmerkammer: Erosion sozialversicherungspflichtiger Vollzeitarbeitsplätze, ungesicherte Existenz trotz Arbeit, Minijob-Universen, eruptiver Anstieg der Leiharbeit

Bremen hat die meisten Minijobs. Zwei Drittel sind weiblich besetzt

Von Henning Bleyl

„Prekäre“ Beschäftigungsverhältnisse nehmen deutlich zu. Diese Diagnose, zunächst empirisch aus ihrer täglichen Beratungspraxis gewonnen, untermauert die Bremer Arbeitnehmerkammer jetzt mit umfangreichem statistischem Material. Unter „prekär“ fasst sie sowohl Minijobs als auch Leiharbeit, genau so wie Niedriglohntätigkeiten und Teilzeitjobs: „Beschäftigungsverhältnisse, die keine langfristige, autonome Zukunftssicherung ermöglichen“, erklärt Christiane Koch, Referentin der Arbeitnehmerkammer.

Selbstverständlich können nicht alle Teilzeitarbeitsverhältnisse als prekär gelten – eine Lehrerin mit eingeschränktem Deputat ist nicht armutsbedroht. Die Kammer begrüßt auch ausdrücklich das 2000 eingeführte Recht auf Teilzeit etwa nach der Geburt von Kindern. Andererseits wandelten viele Unternehmen aus Spargründen Vollzeit- in Teilzeitstellen um, betont Kammergeschäftsführer Ingo Schierenbeck – was den Wünschen zahlreicher Beschäftigter deutlich zuwider laufe. Die langjährige Bremer Praxis, ErzieherInnen auf Dreißigstundenbasis einzustellen, gehört für die Arbeitnehmerkammer ebenfalls zur Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse.

Signifikant sind in jedem Fall die Geschlechtsunterschiede: Während 50 Prozent der erwerbstätigen Bremerinnen Teilzeit arbeiten, tun dies nur 15 Prozent der männlichen Arbeitnehmer. Bei den Minijobs sind sogar zwei Drittel weiblich besetzt. In diesem Bereich ist Bremen bundesweit spitze: 50.000 BremerInnen leben ausschließlich von Jobs auf 400-Euro-Basis. Das sind 9,3 Prozent aller Erwerbstätigen – der länderübergreifende Durchschnitt liegt dagegen bei 7,4. Darüber hinaus haben weitere 20.000 BremerInnen einen Minijob, weil ihr Einkommen aus einer parallel ausgeübten Primärbeschäftigung nicht auskömmlich ist.

Nach Erkenntnissen der Kammer können immer weniger BremerInnen von ihren Löhnen und Gehältern leben. 4.500 Vollzeiterwerbstätige beantragen zusätzlich Unterstützung nach ALG II. Im Klartext: Ihr Einkommen liegt unter dem Existenzminimum. Von ausreichender Rentenvorsorge ganz zu schweigen. Ohnehin ist fast jeder siebte sozialversicherungspflichtige Vollzeitarbeitsplatz in den vergangenen sieben Jahren verloren gegangen, hat Jörg Muscheid, wirtschaftspolitischer Experte der Kammer, errechnet. Derzeit gebe es im Land Bremen davon noch 219.700, im selben Zeitraum stieg die Zahl der Teilzeitbeschäftigten um ein Drittel auf 52.000. Ein noch eruptiverer Anstieg ist bei der Leiharbeit zu beobachten. Wegen ihrer grundsätzlichen Befristung wird sie von der Kammer ebenfalls als „prekär“ definiert.

Durch den häufigen Arbeitsplatzwechsel seien Leiharbeiter weder in betriebliche Fortbildungen eingebunden noch ausreichend in ihren Interessen vertreten, betont Schierenbeck. Ihre Zahl hat sich seit 2005 um 22 Prozent auf etwa 6.000 gesteigert, Hintergrund ist die gesetzliche Liberalisierung – und natürlich das Bedürfnis von Firmen, Auftragsspitzen überhanglos abzuarbeiten. Die durchschnittliche Beschäftigungsdauer von LeiharbeiterInnen liege bei drei Monaten, hat Koch ermittelt. Bislang ergebnislos seien ihre Recherchen zur Gewinnspanne der vermittelnden Firmen. Bekannt ist lediglich die Differenz zwischen einem festen und einem – identisch beschäftigtem – geliehenen Angestellten: Für Metall-Facharbeiter beispielsweise beträgt sie ein Drittel – 9,60 Euro statt 14,50 die Stunde. Und: Die „häufig suggerierte Übernahme“ der ursprünglich ausgeliehenen Kräfte finde keineswegs in erheblichem Maß statt, sagt Schierenbeck.

Welche Konsequenzen zieht die Kammer aus den Botschaften des statistischen Materials? Wichtig sei zunächst zu wissen: Auch bei Minijobs gelte Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und an Feiertagen. Schierenbeck: „Das weiß bloß keiner“. Die Politik ihrerseits müsse bei der Unternehmensansiedlung die Qualität der neu geschaffenen Arbeitsplätze kritisch in den Blick nehmen. Darüber hinaus bleibe die Erkenntnis, dass der aktuelle wirtschaftliche Aufschwung nicht in der Lage sei, die Tendenz zur Prekarisierung zu brechen.