berliner szenen Das große Reißen

Übersprungshandlung

Adalbertstraße, so gegen 23 Uhr. Es sind fast nur noch Vergnügungswillige auf der Straße, junges Volk auf der Suche nach Ablenkung und Liebe. In diesem Gewimmel fällt die ältere Frau mit dem sehr roten Mantel, der auch für eine Neunzehnjährige zu rot wäre, sehr schnell auf. Man bemerkt: Auch die Strumpfhosen sind rot, die Schuhe ebenso, ihre Lippen sind knallrot, ihre nussbraunen Haare offensichtlich gefärbt. Nur ihre Haut ist bereits auf eine gar nicht unangenehme Weise faltig, ihr gebeugter Gang verrät einen leichten Buckel.

Während sie durch die Jugendlichen und Möchtegernjugendlichen hindurchschreitet, an der Wilhelm-Liebknecht-Bibliothek und dem Döner-Imbiss entlang, spitzt sie ihren Mund, angewidert von dem, was sie hier sieht. Wäre dies eine französische Verfilmung eines Jelinek-Romans, die Frau würde von Isabelle Huppert gespielt.

Plötzlich bleibt sie stehen, vor dem Haus neben dem Copy-Shop. Ruckartig. Sie schaut auf die Plakate – Politik und Rock werden annonciert. Und dann fängt sie an: Vorsichtig, mit ans Zupacken nicht gewöhnten spitzen Fingern, zieht sie an einem der Plakate, geht einen Schritt zurück, strauchelt kurz, denn das Papier reißt. Sie lässt den abgerissenen Schnipsel achtlos fallen, fasst ein anderes Plakat, wieder ganz angeekelt, an einer Ecke. Zerrt, ruckelt, reißt. Ein halbes Plakat fällt diesmal aus ihren Fingern. Noch mal zerrt sie, diesmal zieht sich ein Riss quer übers Plakat. Sie reißt jetzt wahllos, es geht nicht gegen eine bestimmte Band oder eine bestimmte Demo. Ein Dutzend Mal zieht sie hier und da ein paar Fetzen herunter. Dann geht sie einfach weiter, ohne ihr Werk noch mal zu betrachten. Lockerer schreitet sie nun dahin, beinahe beschwingt.JÖRG SUNDERMEIER