WER IN NEW YORK ZU FUSS GEHT, LEBT GEFÄHRLICH: Abbiegen wie beim Hunderennen
OPHELIA ABELER
Der New Yorker Polizei kann man es auch nicht recht machen. Jetzt, wo die sogenannten „quality-of-life-complaints“, also Lebensqualitätsbeschwerden, Notrufe wegen Gewaltdelikten überwiegen, beschwert sie sich, zu viel Zeit mit Nachbarschaftsstreits zu verbringen anstatt mit Raubüberfällen und Schießereien. „Wir sehen mehr Leute, die von Autos überfahren werden als von Kugeln getroffen“, jammert ein Polizist, fügt dann aber immerhin hinzu: „Trotzdem ist es ein verlorenes Leben. Wir müssen aufpassen.“
Es wäre schön, sehr schön, wenn die New Yorker Polizei das hinkriegen würde, auf die Verkehrsteilnehmer, vor allem Fußgänger und Radfahrer, und dann noch einmal speziell die Kinder unter ihnen, aufzupassen. Kriegt sie aber nicht. 184 Tote sind es seit dem 1. Januar, fast jeden Tag kommt ein neuer hinzu; wenn mal eine Woche lang keiner stirbt (gab es dieses Jahr noch nicht, sechs Tage waren das Maximum), wird schnell aufgeholt, wenn ein Minivan gleich in eine ganze Gruppe von Fußgängern hineinfährt. Meistens geschieht das beim Rechtsabbiegen. Man bekommt nämlich in den null bis fünf Fahrstunden, die man hier braucht, um den Führerschein zu machen, eingeimpft, sich bloß zu beeilen. Statt rechts vor links gilt: Es fährt, wer zuerst da war. Die Automatik tut das ihre dazu: Es wird abgebogen wie beim Hunderennen, nämlich ohne in der Kurve langsamer zu werden. Außerdem parken Autos auf den Kreuzungen, die dadurch, wenn überhaupt, nur teilweise einsehbar sind. Und dann gehen natürlich alle bei Rot, wobei es bei Grün eigentlich genauso gefährlich ist. Das „right of way“ des Fußgängers wird dort, wo der Verkehr halbwegs fließt, natürlich nicht respektiert, es läuft ja gerade so gut. Dasselbe denken sich die Karawanen auf den großen Avenues in Manhattan – sie laufen immer weiter, quetschen sich an roten Fußgängerampeln noch zwischen aggressiv hupende Taxis; Fleisch gegen Blech.
Der Bürgermeister Bill de Blasio will der Polizei, den Opfern und ihren Angehörigen helfen. Mit Kameras. Die sollen an Kreuzungen angebracht werden und Unfälle filmen, damit hinterher zumindest die Schuldfrage geklärt werden kann. „Hit and run“, Fahrerflucht, ist üblich, dabei erwartet einen sowieso meistens nur eine Geldstrafe. Für das erste Totfahren eines Menschen bekommt man quasi nur ein Ticket wie für das Parken an einem Hydranten. Beim nächsten Mal kann dann schon mal der Führerschein weg sein, was besonders Taxifahrer aufregt, die a) besonders häufig in Unfälle mit für Passanten tödlichem Ausgang verwickelt sind und b) mit der Begründung, IHR Leben hänge davon ab, keine härteren Strafen akzeptieren wollen.
Dass vielleicht ein paar mehr Fahrstunden, vielleicht mindestens 15, statt keine oder drei bis fünf, zwingend sein sollten, hat bisher noch niemand vorgeschlagen, sehr wohl möchte Bill de Blasio aber Themen wie „wie man an einem Fahrradfahrer vorbeifährt“ und „wie man sich auf einer Kreuzung mit Fußgängern und Fahrradfahrern verhält“ in die verpflichtende 5-hour-class aufnehmen, die man besuchen muss, bevor man die Fahrprüfung ablegen darf.
Bisher sieht dieser Kurs so aus, dass einem fünf Stunden lang Filme gezeigt werden, also länger, als die meisten Amerikaner je praktisches Fahrtraining gehabt haben, bevor sie nach einer zehnminütigen Fahrprüfung in einer ausgestorbenen Gegend ihren Führerschein in die Hand gedrückt bekommen. Diese Filme stammen aus den 80er Jahren, denn sie sind teuer zu lizensieren für die Fahrschulen. In ihnen wimmelt es von Mädchen mit Dauerwellen zwischen dicken Schulterpolstern.
Stocknüchtern und bei Tag
Irgendwann werden diese Mädchen entweder überfahren oder schluchzen wegen eines überfahrenen Verlobten in die Kamera. Immer war der Todesfahrer alkoholisiert, dabei ist das in New York gar nicht nötig, die meisten Unfälle passieren stocknüchtern am helllichten Tag. Welche Verkehrsrisiken seine Stadt birgt, weiß danach noch immer keiner der Teilnehmer.
Vielleicht werden die Lehrfilme ja demnächst mit Hilfe von Bill de Blasios Programm zur Verbesserung der Verkehrssicherheit upgedatet. Er sollte sein Filmmaterial den Fahrschulen kostenlos zur Verfügung stellen. Es könnte ernsthafte Abschreckung erzeugen, die nicht auf Schulterpolstern und Dauerwellen beruht, sondern auf Bildern von Kindern, die in Krankenwagen geschoben werden und Bergen von Plüschtieren, die sich danach an den Unfallstellen türmen. Das Programm heißt tatsächlich „Vision Zero“. Das soll zwar bedeuten: bis 2024 keine Unfalltoten mehr in New York. Aber im Moment beschreibt es gut, was die meisten Autofahrer beim Abbiegen sehen: nichts.
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