: Taro-Fladen statt Missionar vom Grill
Fidschi-Inseln, wie man sie sonst kaum sieht: Fernab vom Luxus der Fünfsternehotels an der Küste findet man im abgelegenen Hochland von Viti Levu Menschen, die noch leben wie vor hunderten von Jahren. Mit einer Ausnahme allerdings: Den Kannibalismus haben sie aufgegeben
VON URS WÄLTERLIN
Das menschliche Gehirn malt gelegentlich Bilder, auf die man gerne verzichten würde. Etwa, wie man nach einem Fall in eine tiefe Schlucht aussähe und welche Überlebenschancen man hätte, hier am Ende der Welt. Wie aus Kübeln prasselt der Regen auf den höchstens 30 Zentimeter breiten Pfad zum Nukulau-Wasserfall. Der Weg gleicht mehr der Schlamm-Übungsbahn auf dem Kampftrainingsgelände einer Armee als einem Fußweg. Die Noppen der Trekkingschuhe haben ihre Griffkraft verloren. Neben uns ein Abgrund, überhangen von dichten Dschungelpflanzen, stacheligen Büschen und verrottendem Holz.
Es ist zehn Uhr früh. Die Wanderer sind bis auf die Haut durchweicht vom Dauerregen. Schlamm matscht zwischen den Zehen. Und das in den ersten Stunden einer viertägigen Trekkingtour durch das Hochland von Viti Levu. Einen sprichwörtlichen Steinwurf entfernt delektieren sich Feriengäste in den Fünfsternehotels der Küste an ihrem Frühstück mit Eiern, Speck und saftigen Papayas. Doch hier, in der Nähe des Dorfes Nasukamai im Hochland der Hauptinsel von Fidschi, ist man Lichtjahre entfernt vom Luxus der Konsumgesellschaft – man könnte genauso gut auf einem anderen Planeten sein. Hütten aus Wellblech und geflochtenem Bambus liegen verstreut in der Vegetation der steilen Berge im Hinterland der Ra-Provinz im Osten der Insel. Gelegentlich sieht man auch eine „Bure“, das traditionelle Haus der indigenen Fidschianer, gebaut aus Stroh und Holz, zusammengehalten nur von Bastfasern. Erst nach Stunden auf dem Deck eines Lastwagens mit kaum existierender Federung ist man in diesem abgelegenen Landesteil, den die meisten Europäer nur wegen seiner Strände und Luxushotels kennen.
Im Inneren von Viti Levu leben die Menschen heute noch so wie vor hunderten von Jahren. Die meisten sind klassische Selbstversorger: Auf kleinen Flächen pflanzen sie verschiedene Wurzelgemüse wie Taro und Maniok an, ihre wichtigste Nahrung. Und natürlich die Kavawurzel, seit Jahrhunderten die wichtigste und in den meisten Fällen einzige Droge der Fidschianer und anderer Völker im Südpazifik (siehe Kasten). Der Tausch von Früchten, Gemüse, gelegentlich ein paar Hühnern oder einem Schwein ist auch im 21. Jahrhundert die bedeutendste Form von Handel. Geld spielt eine untergeordnete Rolle. Etwa dann, wenn man mal zum Einkaufen nach Rakiraki fährt, der großen Provinzstadt an der Küste.
Wie alle Dörfer in Fidschi wird auch Nasukamai mit seinen knapp über 200 Bewohnern von einem Häuptling regiert, dem „Chief“. Er ist es, der über wichtige Fragen entscheidet und auch darüber, ob Gäste ins Dorf gelassen werden. Seine Macht ist absolut – einem „Chief“ zu widersprechen ist unmöglich. Der Titel wird meist vom Vater auf den ältesten Sohn weitergegeben. Obwohl Fidschi eine mehrheitlich patriarchalische Gesellschaft hat, gibt es eine Handvoll Dörfer mit einer Frau als „Chief“. Im Gästehaus in Nasukamai versammeln sich immer mehr Menschen, um die Besucher aus einem fernen Land zu sehen. Touristen finden nur selten den Weg ins Hochland; Weiße erregen noch immer Aufmerksamkeit, wenn sie mit schmerzendem Hintern vom Lastwagen klettern. Einmal in der Unterkunft, ist man selten allein. Kinder kommen, bestaunen die Gäste, greifen nach ihren Händen, vergleichen die weiße Haut mit der eigenen, dunklen, bis sie die Fremden erschreckt oder verlegen kichernd wieder loslassen. Mit einem strahlenden Lachen verabschieden sie sich, nur um an der Türe noch einmal stehen zu bleiben und zu winken.
Das Erste, was dem Reisenden im Hochland von Fidschi auffällt, ist die überwältigende Freundlichkeit seiner Bewohner. Es ist kaum zu glauben, dass das vor nicht allzu langer Zeit noch ganz anders war: Die Fidschianer gaben sich Jahrhunderte nicht zufrieden mit Taro und gelegentlich einem Schwein. Sie waren Kannibalen. Und das mit Genuss.
„Die Häuptlinge aßen am liebsten den Daumenballen, den zarten Handmuskel unterhalb des Daumens“, erklärt Jochen Kiess, seit zehn Jahren in Fidschi lebender Besitzer des Maravu Plantation Resorts. „Der galt als Delikatesse“, so der gebürtige Stuttgarter, der sich seit seiner Jugend intensiv mit der Ethnologie der Südsee befasst. Im Gegensatz zu anderen kannibalistischen Völkern aßen Fidschianer Menschenfleisch nicht ausschließlich aus rituellen und religiösen Gründen, sondern weil sie Lust darauf hatten. Das ergibt sich aus archäologischen Funden und historischen Berichten früher europäischer Besucher. Danach verzehrten die äußerst konfliktfreudigen Fidschianer schon vor über 2.500 Jahren ihre Feinde. Wie viele andere Völker sahen auch sie das Verspeisen als ultimative Demütigung eines Gegners. Aber sie mochten auch schlicht den Geschmack von Menschenfleisch. „Gelegentlich ging eine Gruppe junger Männer in ein Nachbardorf, holte sich ein Opfer und aß es“, so der Reiseführer Sanaila Kagi, „einfach, weil ihnen danach war.“ Solches Verhalten war den nachbarlichen Beziehungen nicht unbedingt förderlich. Viele Dörfer führten regelmäßig Krieg gegen einander. Zu wahren Fressorgien kam es jedoch nach Gemetzeln zwischen Regionen und Stammesgruppen. Überlieferungen zufolge brachten die Sieger nach einer Schlacht Dutzende von Leichen in ihr Dorf zurück, wo die Opfer gegrillt oder im traditionellen Lovo-Erdofen gebacken und anschließend verzehrt wurden. Oft wurden auch Gegner gefangen und wie Schlachtvieh für den späteren Verzehr gemästet. Wenn es so weit war, konnten sie nur auf ein rasches Ende hoffen: Fidschianer machten es zur Kunst, ihre Gegner vor und nach dem Tod zu erniedrigen. Viele wurden lebend in den Ofen geworfen. Andere mussten zusehen, wie ihre eigenen Körperteile – etwa Arme und Beine – gebraten und verzehrt wurden.
Endlich Abendessen – ganz vegetarisch. In traditionell geführten Häusern lassen Fidschianer ihre Gäste immer zuerst speisen. Unter Beobachtung von mindestens vier Erwachsenen und einem knappen Dutzend Kindern essen sie sich an gebratener Taro satt, auf Fidschianisch Dalo genannt. Traditionelles Essen in Fidschi ist nahrhaft und füllend. Oft wird Taro oder Maniok in Kokosnussmilch angerichtet. Dazu gibt es Spinat. Nur gelegentlich gibt es Fleisch – meist Corned Beef aus der Dose. Ein Schwein wird höchstens bei besonderen Anlässen geschlachtet. Fisch gibt es in der Regel nur in den Küstengebieten. Eine kulinarische Köstlichkeit ist die Vielzahl exotischer Früchte, die im regenreichen, tropischen Hinterland hervorragend gedeihen. Sind die Gäste satt, machen sich erst die Besitzer des Hauses über die Gerichte her. Danach werden die Kinder zugelassen.
Nach einer kurzen Nacht – Fidschianer brauchen keine Wecker, sie haben Hähne, die auch den am meisten erschöpften Wanderer um vier Uhr früh aus dem Bett krähen – geht es weiter auf der Wanderung durch das Hochland von Viti Levu. Der Regen wird zum Dauerbegleiter und gelegentlich zur Gefahr. Der Vavisa-Fluss ist durch die Regenfälle der letzten Tage so angeschwollen, dass er nur auf dem Rücken eines Pferdes durchquert werden kann. Der Weg geht weiter durch kleine Dörfer und Siedlungen, Männer und Kinder mit Buschmessern begegnen den Wanderern. Sie grüßen mit einem freundlichen Lächeln, schütteln die Hand und sagen „Bula“ – Willkommen!
Das Schmatzen des Wassers in den Wanderstiefeln ist oft der einzige Ton, den man in dieser wilden Natur hört. Wieder beginnen die Gedanken zu wandern – zum Missionar Thomas Baker, der 1867 die Menschen von Fidschi zum methodistischen Glauben bekehren wollte. Wie viele seiner Kollegen war auch Baker sehr erfolgreich, den Fidschianern die alten Gebräuche auszutreiben und sie ins vermeintliche Licht des Christentums zu rücken. Heute gehören fast alle Menschen in Fidschi einer christlichen Religion an und sind in der Regel tief gläubig. Am 21. Juli 1867 aber konnte ihm auch sein Glaube nicht mehr helfen. Trotz Warnungen wanderte er in ein noch nicht bekehrtes Dorf im Hochland. Statt ihn und seine himmlische Botschaft willkommen zu heißen und mit ihm das Abendmahl zu feiern, verarbeiteten die Dorfbewohner den Gottesmann zum Festmahl. Er soll, so die Legende, dem „Chief“ den Kamm vom Kopf genommen haben – ein absolutes Sakrileg in einer Kultur, in der das Haupt als Sitz der Seele gilt und keinesfalls berührt werden darf. Pfarrer Baker muss gut geschmeckt haben und ziemlich zart gewesen sein: Die Dorfbewohner verspeisten ihn mit Haut und Haar; nur ein heute im Museum ausgestellter Armknochen blieb auf dem Teller liegen. Dann kochten sie noch seine Stiefel. Die waren ihnen dann aber doch zu zäh.
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