Mensch oder Markt

Der Bremer Entwurf für ein neues SPD-Programm missachtet die realen Probleme der Menschen und flüchtet sich in Floskeln. So verliert die Partei jede Glaubwürdigkeit

Der Soziologe Oskar Negt befasst sich vor allem mit der Organisation der Arbeitswelt, so in seinem Buch „Wozu noch Gewerkschaften?“ (2004). Der obige Text erschien in Langfassung in „Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“ (4/2007).

Um es ohne Umschweife zu sagen: Dem „Bremer Entwurf“ für ein neues Grundsatzprogramm der SPD fehlt die Arbeit der Zuspitzung (Peter Glotz). Damit ist nicht eine wahrheitswidrige Übertreibung oder Radikalisierung gemeint, sondern die Notwendigkeit, die unterschlagene Wirklichkeit so kenntlich zu machen, dass die Widersprüche der Gesellschaft auch skandalisierbar sind. Man kann dem Bremer Entwurf nicht den Vorwurf machen, Wesentliches ausgelassen zu haben, aber er folgt methodisch dem Prinzip des „sowohl als auch“. Auf diese Weise werden fast alle Probleme entschärft, die die Lebensverhältnisse der Menschen betreffen und nach Alternativen verlangen. Das gilt etwa für die Komplexe Globalisierung, Arbeitsgesellschaft und Wirtschaftsdemokratie.

Ein Grundsatzprogramm muss vor allem glaubwürdig sein. Wer etwa vorgibt, Vollbeschäftigung herstellen zu können, der kommt nicht umhin, die bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse anzutasten. Es ist inzwischen schließlich allgemein bekannt, dass die über den Warenmarkt vermittelte Zahl der Arbeitsplätze immer stärker schrumpft. Soll also Erwerbsarbeit ein Identitätssiegel der Menschen bleiben, muss der Bereich der Gemeinwesenarbeit, die kollektiv finanziert wird, wachsen.

Das steht nicht im Bremer Entwurf. Überhaupt gewinnt man den Eindruck, dass die gegenwärtigen Krisen der Arbeitsgesellschaft durch Wirtschaftswachstum, mehr Bildung und weitergreifende Flexibilisierung der Lebensverhältnisse zustande kommen. An keinem Punkt ist davon die Rede, dass der verengte betriebswirtschaftliche Horizont des ökonomischen Denkens zur Fessel einer nachhaltigen Krisenbewältigung geworden ist. Wo die Gesellschaft zum Anhängsel des Marktes geworden ist, müsste die sozialdemokratische Leitlinie darin bestehen, gegen den grassierenden Privatisierungswahn Barrieren zu errichten und das Unverkäufliche bestimmter gesellschaftlicher Güter wieder ganz nach oben zu rücken. Das Wohlergehen einer Gesellschaft und ihr solidarischer Zusammenhalt hängen wesentlich davon ab, dass öffentliche Erfahrungsräume bewahrt werden, in denen Menschen ihre politische Urteilskraft entwickeln und üben können. Diese Seite des Gesellschaftlichen, des Kollektiven, der kommunikativen Vernunft wird viel zu wenig thematisiert.

Die Gewinne von heute seien die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen, lautete die Parole Helmut Schmidts, der die Sozialdemokraten vom Vorwurf des „Neidkomplexes“ befreien wollte. Doch hat sich die Sache längst völlig verkehrt: Die Gewinne von heute sind die Arbeitslosen von morgen. Ein Systemdefekt, der im Grundsatzprogramm benannt werden sollte. Wenn Erwerbsarbeit nach wie vor ein wesentlicher Bestandteil des Selbstwertgefühls der Menschen ist, dann muss die Arbeitslosigkeit so benannt werden, wie sie von vielen empfunden wird: als Gewaltakt und Anschlag auf die Integrität des Menschen.

Es ist zwar auch ein technisches Problem der Versorgung – doch reicht es bei weitem nicht aus, bedauernd festzustellen, dass die Menschen keine Arbeitsplätze für ihre ganze Lebenszeit mehr bekommen können, sich vielmehr auf zerrissene Arbeitsbiografien einlassen müssen. Wir sind gehalten, über die inneren Strukturen dieser Gesellschaft neu nachzudenken. Was Alain Touraine, der große französische Soziologe, beobachtet, gewinnt immer größere Plausibilität: Es vollzieht sich tendenziell eine Dreiteilung der Gesellschaft. Ein Drittel ist etabliert, hat privilegierte Einflusschancen, garantierte Arbeitsplätze, bewegt sich auf einem relativ hohen Lebensniveau. Im zweiten, wachsenden Drittel der Erwerbsbevölkerung bestehen fortwährend prekäre Lebensverhältnisse mit Zeitverträgen und Arbeitsverhältnissen, die kaum zum Überleben ausreichen – ein sozialdarwinistischer Überlebenskampf, der in der Angst einen gefährlichen Rohstoff sammelt. Das letzte Drittel ist die wachsende Armee der dauerhaft „Überflüssigen“, die für diese verengte Perspektive des Produktions- und Lebensprozesses nicht gebraucht werden.

Nichts davon, was als Idee des demokratischen Sozialismus gedacht wurde, ist erledigt

Der durchgängig optimistische Zug des Bremer Entwurfs mag für die politische Handlungsprogrammatik nützlich sein. Wenn aber die Alltagserfahrung der Menschen in eine andere Richtung geht, wenn sie die Zerrissenheit der individuellen und gesellschaftlichen Lebensverhältnisse als bedrückend erfahren, dann geht bereits in den analytischen Teilen ein Stück an Glaubwürdigkeit verloren. Wer sollte da noch Vertrauen in die Kraft und den Mut der Partei haben, die Gesellschaft an Haupt und Gliedern zu reformieren? Ich weiß nicht, warum der Gesellschaftsentwurf eines demokratischen Sozialismus, der der Partei über mehr als hundert Jahre Orientierung und politische Identität verschafft hat, praktisch spurlos getilgt ist, um blassen Ergänzungsbegriffen Platz zu machen: dem „vorsorgenden Sozialstaat“ oder der „sozialen Demokratie“.

Nichts von dem, was als Idee des demokratischen Sozialismus bis zu Willy Brandt gedacht wurde, ist in der Realität erledigt oder moralisch so beschädigt wie der einst „real existierende Sozialismus“ stalinistischer Prägung. Ein wesentliches Merkmal des demokratischen Sozialismus besteht darin, dass Solidarität geübt wird gegenüber jenen, die sich selbst nicht helfen können, und gleichzeitig politische Macht eingesetzt wird, um alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen, wie der frühe Marx festgestellt hat, der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, verlassenes, verächtliches Wesen ist. Demokratischer Sozialismus war und ist das Gesamtkonzept einer Gesellschaft, die durch Werte wie Freiheit und Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Solidarität bestimmt ist.

Der Ökonom Heinz-Josef Bontrup hat jüngst dafür plädiert, die Frage der Wirtschaftsdemokratie wieder aufzugreifen und politisch zu aktualisieren. Denn es sei immer unerträglicher zu sehen, wie die werteerzeugenden Betriebsbelegschaften um die Früchte ihrer Arbeit betrogen werden. Demokratie ist nicht teilbar, deshalb reicht die traditionelle, ohnehin bedrohte Mitbestimmung, auf die wirtschaftliche Demokratie im Programm reduziert ist, nicht aus. Wo über Menschenmassen autoritär, ohne demokratische Legitimation verfügt wird, wie jetzt in Konzernzentralen, da ist Demokratie insgesamt bedroht.

Der Bremer Entwurf entschärft fast alle Probleme, die die Lebensverhältnisse der Bürger betreffen

Es ist die geschichtlich fortwirkende Substanz des demokratischen Sozialismus, die Menschen aus entwürdigender Abhängigkeit zu befreien. Soziale Gerechtigkeit, in ihrem ganzen Umfang begriffen, bedeutet nichts weniger, als die Herstellung einer Gesellschaftsordnung, die wirtschaftliches Handeln und die Imperative von Kapital und Markt in den Kulturzusammenhang menschlicher Zwecke zurücknimmt. Auch für die SPD heute muss gelten: Die Gesellschaft darf kein Anhängsel von Kapital und Markt werden. Das ist keineswegs antiquiert, sondern höchst aktuell.

OSKAR NEGT