Des Apfels Kern

Russland war über Jahrzehnte ein wichtiger Absatzmarkt für die Apfel-Erzeuger aus Thüringen. Diese Saison aber könnte in einer wirtschaftlichen Katastrophe enden, befürchten sie

AUS GIERSTÄDT SARAH SCHMITT

Der Traktorfahrer dreht am Lenkrad, Traktor samt Anhänger biegen rechts ab. Im Inneren des Anhängers sitzt eine Gruppe polnischer Saisonarbeiter, sie kehren von einem Arbeitstag auf den Apfelfeldern zurück und fahren zu ihrer Bleibe in Gierstädt.

In dem 859-Seelen-Dorf sind die Straßen still. Hier im fruchtbaren Thüringer Becken, dem Obstgarten Thüringens, wussten die Nachbarn schon viel früher von den Folgen der Sanktionen. Dass die Warenströme diesen Herbst umgelenkt werden müssen, dass das Obst neue Wege finden muss, seitdem man in Russland keine Äpfel aus dem Westen mehr kaufen kann, das erzählten ihnen die Saisonarbeiter aus Polen.

In Polen hat der russische Importstopp von Agrar- und Ernährungsprodukten bereits vor einigen Wochen eine Protestwelle ausgelöst. Das Land exportierte früher etwa die Hälfte seiner Äpfel nach Russland. Nun wurde dazu aufgerufen, Apfelwein zu trinken und größere Mengen Äpfel zu verzehren, um der Lage Herr zu werden. Es gab Apfelessevents, Apfel essende Selfies, Verteilungen von kostenlosen Äpfeln vor Supermärkten, landesweite Aufrufe zur Steigerung des Apfelkonsums.

Mittlerweile ist die Welle auch auf andere osteuropäische Länder wie Litauen übergeschwappt. Man kann sagen: Im Marktpool herrscht mentaler Druck. Unruhe und Unsicherheit sind bisher allerdings allein aus dem Wissen um die politische Lage entstanden. Gleichzeitig steht europaweit eine Rekordernte an. Die Rede ist von bis zu 3,5 Millionen zusätzlichen Tonnen.

In Gierstädt steht Herr Kirchner auf dem betonierten Ladeplatz vor den großen Lagerhallen. Hier geht es im Morgengrauen Schlag auf Schlag, hier wird ein leerer Lastwagen nach dem anderen mit Äpfeln beladen. Kirchner ist der Thüringer Geschäftsführer der Vertriebsgesellschaft VEOS, die für alle beteiligten Erzeugerbetriebe aus Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Thüringen die Vermarktung übernimmt. Seine Absatzgenossenschaft Fahner Frucht kümmert sich vor Ort um die Sortierung, Lagerung und Verpackung der Ernte.

Die Genossenschaft fährt keinen Gewinn ein, sie deckt lediglich die Maschinen- und Lagerkosten, besorgt das Verpackungsmaterial, bezahlt die Arbeitskräfte. Hier in der Absatzanlage werden die Äpfel von Menschen und Maschinen sortiert, gelagert und verpackt. In den großen Lagerhallen herrschen etwa 3 Grad Celsius. Das Sauerstoffniveau ist niedrig, dann atmen die Äpfel nicht. Bis zu zwölf Monate lassen sie sich so lagern. Wenn sie anschließend wieder an die frische Luft kommen, hat sich an ihrem Geschmack nichts geändert.

Neue Märkte in China?

Kirchner sagt, dass er gute Geschäftsbeziehungen hatte zu Russland. Etwa 10 Prozent des Ertrags, das entspricht 7.000 bis 8.000 Tonnen, wurden früher direkt dorthin exportiert. Einige Lieferungen gingen sogar noch weiter, bis nach Kasachstan, Usbekistan. Die Qualität deutscher Äpfel werde dort sehr geschätzt, erzählt er, besonders nach Weihnachten, wenn die Ernte in den alten russischen Lagern verderben würde.

Diese Saison dagegen könnte für Kirchner katastrophal werden. Einige seiner Beziehungen bestanden bereits seit 20 Jahren. Jetzt sind sie abgeschnitten, komplett zerstört, sagt er mit leiser Stimme. Die grellen Sonnenstrahlen treffen seine Augen hart, das Gesicht wandert in den Schatten, die Augen blicken über den Ladeplatz hinaus und weiter über die Weite der Felder, gen Osten.

Für die Zukunft wird Kirchner neue Länder finden müssen. An China denkt er jetzt oder an Jordanien. Es dauert lange, bis die Rahmenbedingungen und Kriterien definiert werden, lange bevor der tatsächliche Export stattfinden kann. Die Handelsbeziehungen zu Russland werden in Zukunft nicht dieselben sein.

Den perfekten Apfel, meint Kirchner, den gibt es nicht. Farbe, Größe und Textur lassen keine Aussagen über den Geschmack zu. Auf die individuellen Vorlieben kommt es an. Tausend verschiedene Apfelsorten sind derzeit im Angebot, die Kunden beißen zunehmend in süße Sorten, die sauren verschwinden. Gala und Elstar schaffen es seit einigen Jahren beständig unter die drei beliebtesten Sorten.

Die beste Lösung, findet der Gartenbauingenieur, wäre, wenn die deutsche Kanzlerin Merkel mit dem französischen Staatspräsidenten Hollande nach Moskau fliegen und sich mit Putin an einen Tisch setzen würde. Kirchner klatscht in die Hände. Einfach dem Konflikt ein friedliches Ende bereiten.

Auf die zweitbeste Lösung, den Ersatz der Ware, hofft er nicht mehr. Vor zwei Wochen wurde die Ende August verfasste Verordnung zu den Entschädigungsmaßnahmen der Europäischen Union auf Eis gelegt. Zu groß war das Risiko der Vorteilsnahme einiger Länder, zu schwierig gestaltete sich die Kontrolle der tatsächlichen Verluste. Als letzte Möglichkeit bleibt nun die Nichternte der überschüssigen Äpfel.

Die Erzeugerin Heidelore Degehardt und ihr Sohn stehen vor ihrem Hofladen. Sie verkaufen an die VEOS und direkt von hier, auch Selbstpflückfelder haben sie. Fast drei Jahre hat Sohn Kevin Degehardt gebraucht, um sein Etikett den Anforderungen der Abnehmer anzupassen.

Er kann es sich nicht mehr leisten, dass ein einziger Apfel mit fehlenden Deckfarbenprozenten oder mit einem braunen Punkt eine Sendung zurückweisen lässt und somit seinen Ertrag schwächt. Mehr noch als Rücksendungen befürchtet er jedoch Warenreklamationen. Finden die Lebensmittelketten einen Mangel an der Ware, drücken sie manchmal nur den Preis. Die Ware bleibt trotzdem beim Laden. Doch die große Ernte steht noch aus. Das Preisniveau bildet sich gerade. Sohn Degehardt befürchtet Schlimmes.

Um die genaue Höhe des bevorstehenden Geldverlustes werden sie erst im November wissen. Der Fallobstpreis ist bereits um über die Hälfte gesunken, die Preise befinden sich im Sturzflug. Am Baum können die Äpfel nicht hängen bleiben, sonst wachsen im nächsten Jahr keine Blüten und auch keine neuen Früchte mehr. Auf den Feldern liegen bleiben kann das Obst genauso wenig. Im Winter kommen die Mäuse, die mögen es feucht und kalt unter dem Schnee. Sie vermehren sich explosionsartig und fressen die Wurzeln der Bäume an. Dann sterben die Bäume ab. Es lohnt sich nicht, die Arbeiter zu bezahlen, die gesamte Ernte vom Feld aufzuheben. Es ist ein mehrfacher Verlust. Diese Jahreszeit müssen wir leise weinend ertragen, sagt der Sohn.

Auf den Feldern der Fahner Höhe strahlt die Sonne. An guten Tagen reicht der Blick vom Thüringer Obstgarten bis zum Brocken im Harz. Frau Degehardts Erzeugerbetrieb ist einer der größten dieser Gegend, die insgesamt 1.000 Hektar zählt. 160 Hektar sind in ihrem Besitz, 65 davon sind Apfelfelder. Heidelore Degehardt blickt auf die umherliegenden Felder. Aus den überschüssigen Äpfeln lässt sich kein Saft mehr machen, höchstens noch Apfelsaftkonzentrat, meint sie. Eine Lösung könnte sein, wenn alle Verbraucher mehr als einen Apfel pro Tag essen würden.

Preise im Sturzflug

Ihre Finger gleiten dünn über das Lenkrad, während sie zwischen den Baumreihen über die Felder fährt. Sie hat schon viel versucht, doch sie verträgt nur noch wenige der tausend Apfelsorten, Idared zum Beispiel, die schmecken fein säuerlich, ohne viel Aroma. Auch die meisten anderen Lebensmittel kann sie mittlerweile nicht mehr essen. Jetzt kann ich mich nur noch empören, sagt sie.

Eine Gruppe von zehn polnischen Saisonarbeitern pflückt an den Reihen. Auf den Feldern beschäftigt Heidelore 58 Arbeiter, 18 davon sind deutsche Festangestellte, 40 polnische Saisonarbeiter. Die Polen arbeiten die ganze Saison durch, samstags und sonntags auch. In ihren Hosentaschen stecken Messringe, damit überprüfen sie regelmäßig die Größen der Äpfel, die sie pflücken. Kommen sie bei den gepflückten Apfelreihen durcheinander, wird der Lohn gekürzt. Die Bezahlung richtet sich nach der geernteten Menge. Unlängst baten die Arbeiter um einen halben Cent mehr pro Kilo, das entspricht 6 Euro mehr am Tag. „Die Arbeit mit den Polen funktioniert reibungslos“, sagt Degehardt. Ein wenig Polnisch hat sie gelernt, sie kennt alle Namen. Sie sagt die Zahl 6 auf Polnisch, eine Arbeiterin bekommt einen Schreck, schnell überprüft sie die Größe des Apfels, den sie gerade gepflückt hat. Die Erzeugerin meinte die Uhrzeit, die Arbeiterin atmet auf.

Zum Essen kommen sie meist nicht auf den Feldern. Vom Anfang der Apfelreihen strömen sie aus, pirschen gezielt an die Bäume, beladen die Zehnkilosäcke, die sie vor dem Körper tragen, bis diese voll sind, entleeren sie in den Kisten hinter dem Traktor.

Wenn die Kisten voller und die Apfelbäume leerer sind, steigt der Traktorfahrer wieder in seinen Sitz. Er dreht das Lenkrad nach links und gibt Gas. Die Kolonne kommt wenige Meter weiter zum Stillstand.