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AUSGEHEN UND RUMSTEHEN VON RENÉ HAMANNKOMMUNIZIERENDE PARALLELUNIVERSENIm Keller und an der Bar

VON RENÉ HAMANN

AUSGEHEN UND RUMSTEHEN

Ein Wochenende in Fragmenten. Im Wesentlichen sind die Schauplätze der Keller des Ballhauses Naunynstraße, im Zuge des wie jedes Jahr stattfindenden Bücherfests in der Oranienstraße, und das Lokal Möbel Olfe.

Im Keller des Ballhauses Naunynstraße fanden die Lesungen statt, die für nach Mitternacht geplant waren. Für den obigen Saal gab es wohl keine Lesekonzession. In einem schwarzen Raum mit grell weißem Scheinwerferlicht setzten sich junge Menschen mehrheitlich auf den Fußboden und lauschten. Manche lachten, manche klatschten. Der Raum dient normalerweise als Probebühne; die Homies des Hauses waren jedenfalls auch da und standen mit uns in der Raucherecke am Fuße der Kellertreppe. Wie damals in der Schule. So waren auch die Gespräche. Der türkische Schauspieler, den ich schon einmal namentlich nicht erwähnt hatte, redete mit uns über die alttestamentarische Justiz im Iran. Also über das Säureopfer, das jetzt das Recht zugesprochen bekam, den Täter mit einem Gift ebenso blind zu spritzen.

Dann unterhielt sich ein Schauspielerpaar wechselweise auf Kurdisch und Türkisch, und ich sollte erraten, was jetzt was war. Keine Chance. In der Kellerbar, die sich an diesem Abend „Ali’s Palace“ nannte, saßen wir wie Schüler vor der Theateraufführung und suchten unsere Nervosität mit Alkohol zu dämpfen. Der Freund und mehr als geschätzte Kollege Ambros W. trank abwechselnd Whisky ohne Eis und Kaffee. Später dann Tee. Er hat Stil. Es war ihm in jahrzehntelanger Übung gelungen, seine Herkunft zu überwinden.

So weit bin ich meistens nicht. Ich lasse mich einladen, als ob ich immer noch kein Geld hätte. Ich bewundere Freunde, die bisweilen Fremden ohne Weiteres aus anderen Kontexten erzählen, zum Beispiel über Hofmannsthal, als ob das nicht auch weit entfernte Paralleluniversen sein könnten. Mindestens einmal täglich vermisse ich einen Rosenduft, der mir um die Nase streichen könnte.

Im Möbel Olfe sah ich eine Bedienung, die konsequent an mir vorbei schaute, obwohl sie nichts zu tun hatte. Erst kürzlich hatte ich mich an selber Stelle darüber gewundert, auf die Order „ein Bier, bitte“ gleich ein großes bekommen zu haben. Diesmal ging es um die Chips, aber die waren schon vor längerer Zeit ausgegangen. Was sie mir dann doch irgendwann mitzuteilen geruhte. Eigenwille gehört hier zum Arbeitsethos, dachte ich und trollte mich zu meiner Runde.

Dort saß ich neben einer Frau, die fast wie eine Schallplattenfirma früherer Tage heißt. Mit einem Zusatzbuchstaben (und ohne Vogel). Eine schöne Frau.

Die relativ geringe Betriebsamkeit im Olfe ließ dann darauf schließen, dass der ESC für Deutschland nicht gut ausgegangen war. Ein einsamer Tänzer bewegte sich zu „Crystalised“ von The XX in der Raummitte. Aber immer wieder warteten Jünglinge vorm Damen- und Transenklo und warfen uns lüstern-verschüchterte Blicke zu.

Doch wir waren straight und rauchten. Wir rauchten alle; nur die schöne Frau rauchte nicht. Dann kamen sechs Wodka. Es war der erste Wodka, der mir schmeckte und den Magen nicht direkt in die Grube schickte. Wir tauschten dann weiter Paralleluniversen aus.

Kürzlich hatte ich mal wieder der vergebenen Prinzessin gegenübergesessen. Wir unterhielten uns über Schlaganfälle. Dann tirilierte ihr Handy, woraufhin sie eine Tablettenpackung aus ihrer Handtasche holte und vor meinen Augen die Pille nahm. Dann redete sie ohne Umschweife weiter, während ich sehr lachen musste. So etwas hatte ich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Und das ist keine Übertreibung. Ein Wochenende in Fragmenten. Nur langsam finden die Teile wieder zueinander.

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