„Man weint nicht, lacht nicht“

Petra Schröder

„Meine Arbeit beinhaltet den Willen, einen Menschen als anders zu sehen, anstatt ihn abzustempeln – erst dann wird es anstrengend. Man lässt sich dann nicht mehr auf ihn ein, sondern leistet Widerstand gegen dessen Wahrnehmung“

Petra Schröder ist im Vorstand des Weglaufhauses „Villa Stöckle“ in Frohnau – seit nunmehr zehn Jahren ein Zufluchtsort für wohnungslose Psychiatriebetroffene, die versuchen wollen, einen individuellen Weg in die Selbstständigkeit zu finden. Ohne Psychiatrie, ohne sozialpsychiatrische Versorgung und vor allem ohne Psychopharmaka. Vor sieben Jahren war die 52-Jährige selbst „ver-rückt“. In der Psychiatrie attestierte man ihr eine Psychose, die mit Medikamenten behandelt wurde – bis sie den Weg ins Weglaufhaus fand. Die Villa Stöckle ist ein Angebot von Psychiatriebetroffenen für Psychiatriebetroffene und in dieser Form in Deutschland einmalig. Leider, findet Petra Schröder, der die klassische Psychiatrie ein Gräuel ist.

INTERVIEW MARTIN REICHERT

taz: Frau Schröder, kennen Sie den Schlager „Du bist verrückt, mein Kind, geh doch nach Berlin“?

Petra Schröder: Ganz dunkel, ja. Habe ich schon mal gehört. Warum?

Berlin hatte immer den Ruf, die Insel der Verrückten zu sein. Hier konnte und durfte man anders sein – können Sie das bestätigen?

Nicht unbedingt. Auch in Berlin gibt es mehrere Psychiatrien. Wenn man da mal angedockt ist, spielt es keine Rolle mehr, ob die Stadt nun unkonventionell ist oder nicht.

Das Weglaufhaus ist jedenfalls unkonventionell – ein Gegenmodell zur Psychiatrie?

In der Villa Stöckle sind wir für Menschen da, die in der Psychiatrie mit Medikamenten ruhiggestellt werden und damit unglücklich sind. Eigentlich sind das Menschen, die ein bisschen andere Schwierigkeiten haben, im Verhalten und in der Art, wie sie eben die Welt sehen. Wir wollen genau darauf aufbauen, dass der Mensch aus dem Potenzial, das er hat, das Leben schaffen kann.

Das ist das Prinzip des Weglaufhauses. Kann hier jeder kommen?

Nein. Wenn jemand unter Sicherheitsverwahrung steht zum Beispiel, nicht. Was wir jedoch machen können, ist, uns zu bemühen, eine Zwangseinweisung rückgängig zu machen. Das geht schon. Die Kapazitäten sind natürlich auch begrenzt: Wir können bis zu 13 Menschen aufnehmen.

Die Villa Stöckle liegt inmitten einer ziemlich bürgerlichen Wohngegend. Eine gute Nachbarschaft?

Im Moment ist Waffenstillstand. Aber früher war es ziemlich krass hier – Beschwerden, Beschimpfungen. Die Menschen hatten vor allem Angst, dass ihren Kindern etwas angetan wird. Man wollte uns hier am liebsten weghaben.

Sie waren selbst einmal Bewohnerin der Villa Stöckle. Inzwischen sind Sie im Vorstand?

Das Weglaufhaus ist ja ein Angebot von Psychiatriebetroffenen für Psychiatriebetroffene – und nun bin ich eine von insgesamt drei Vorständen, weil ich an die Idee dieses Hauses glaube. Bewohnerin war ich, nachdem ich selbst in eine Notsituation gekommen war. Psychiatrie hat ja nun mal mit Medikamenten bis „oben unter“ zu tun. Im Grunde ist es ja so: Wenn du in irgendeiner Schwierigkeit bist, bist du auch nicht in der Lage, dich aus dieser Situation herauszulavieren. Denn du läufst ja völlig neben der Kappe.

Aufgrund der Medikamente?

Ja. Und dann kriegst du nur noch gesagt: Mach mal dies, mach mal das. „Der Junge war gehorsam wie ein Automat“ – ich glaube, dieser Satz stammt aus einer Kurzgeschichte von Max Frisch. Wir haben das als Schüler damals als furchtbar empfunden, wie dieses Kind gedrillt wurde. Und so ist das in der Psychiatrie ja auch.

Man soll nach Abläufen funktionieren?

Musst du ja.

Die Errichtung eines festen Tagesablaufs gehört in der Psychiatrie zur Therapie.

Ja. Nur nehmen die keine Rücksicht darauf, was denn nun mit dem Bewohner ist, was der für ein Potenzial hat, was man daraus noch machen kann.

Können Sie sich erinnern, wie das war, als Sie unter Tabletten standen?

Ich weiß bis heute nicht, was ich überhaupt bekommen habe, da wurde mir immer was anderes gesagt. Ich war in der Klinik und konnte plötzlich links von rechts nicht mehr unterscheiden, und ich war auch zeitweise bewusstlos.

Viele Betroffene berichten, dass man eigentlich gar nichts mehr empfindet, weder positiv noch negativ. Man wird zu einer Art Topfpflanze.

Alles ist halt scheißegal. Man weint nicht, lacht aber auch nicht.

Und wenn man sie wieder absetzt?

Kommt darauf an, wie lange man wie viel eingenommen hat, wie weggetreten man ist. Krasser sind die Umschwünge: Die Empfindungen kommen nicht auf einmal, sondern allmählich wieder.

Ein schönes Gefühl?

Auf jeden Fall. Mit ist man einfach nicht mehr handlungsfähig, willenlos. Die Welt um einen herum ist mit Brettern zugenagelt.

Fühlt man sich dann allein?

Eigentlich fühlt man sich gar nicht.

Verrückt!

Eben.

Tabletten und Disziplin. Gab es nicht doch auch eine positive Handreichung in der Psychiatrie?

Wenn man zehnmal in einem Gespräch gefragt wird: Was haben wir denn heute für ein Datum?, sagst du irgendwann: gestern. Dann ist das Gespräch eben geplatzt, aber du kannst auch irgendwann nicht mehr.

Davor sind Sie dann weggelaufen?

Ich habe einfach erst mal meine Klappe gehalten, sodass sie mich irgendwann haben freiwillig laufen lassen.

Sie sind also nicht einfach gegangen?

Na ja, so einfach geht das nicht. Das war eine geschlossene, da kann man nicht einfach gehen.

Das heißt, Sie haben alle Auflagen erfüllt, bis Sie ordnungsgemäß entlassen wurden?

Ja. Hat mich zwar nicht weitergebracht, aber ich war erst mal wieder draußen. Wenn du Probleme hast, in einer Krisensituation bist, in einer „ver-rückten“ Situation also, wenn deine Probleme überhand nehmen, du nirgends Gehör findest und auch schon mal lauter wirst – das sind dann alles Dinge, die unweigerlich zu Medikamenten führen.

Was war das für ein Zustand der „Ver-rücktheit“ bei Ihnen?

Ich habe mich nur gewehrt. Ich bin sehr angegangen worden aus Verwandtschaftskreisen. Das war wie ein schlechter Krimi. Man wollte mich ganz gerne in die Psychiatrie abschieben.

Ein Streit?

Ein Streit, der sehr subtil hinter meinem Rücken geführt worden ist. Sogar mein Arbeitgeber wurde da miteinbezogen, bis ich rausgeschmissen wurde. Auch mein Vermieter war ein Teil des Spiels.

Und dann wurden Sie zwangseingewiesen?

Nein. Ich bin auf der Straße gelandet. Man hatte mir die Zwangseinweisung angedroht. Auf der Straße habe ich mich sicherer gefühlt als unter diesen Bedingungen. Aber dort bin ich dann irgendwann zusammengeklappt. Sinnigerweise kommt man dann irgendwie in die Psychiatrie. Das fand ich auch sehr merkwürdig – mit mir hätte ja auch sonst irgendwas sein können, nicht?

Sie haben das Bewusstsein verloren?

Ja, das war hier in Berlin.

Wie lange hatten Sie bis dahin auf der Straße gelebt?

Nicht sehr lange, aber es war eben verdammt kalt. Und ich war ohne Essen und Trinken, ohne alles, ich kannte mich auch überhaupt nicht aus – weder wusste ich, wo eine Notübernachtung ist, noch, wo man etwas zu essen bekommt. Das hältst du nicht lange aus.

Sie sind aus Ihrem Leben weggelaufen?

Ja. Ich wusste mir keinen anderen Rat. Das ist jetzt sieben Jahre her.

Und davor haben Sie ein ganz normales „bürgerliches Leben“ geführt?

Ja, ich habe hier in Berlin mit meinem Partner zusammengelebt, der dann krank wurde. Ich habe ihn zu Hause bis zu seinem Tod gepflegt und deshalb nicht mehr gearbeitet – leider waren wir nicht verheiratet, deshalb kamen finanzielle Sorgen dazu.

Hatten denn die Menschen um Sie herum auch recht: Waren Sie in diesem Zustand „ver-rückt“?

Nein, eigentlich überhaupt nicht. In Berlin gab es mal so Plakate, auf denen stand: „Behindert ist man nicht, behindert wird man.“

Man wird verrückt gemacht – haben Sie auf der Straße Menschen getroffen, die Sie verstanden haben?

Nein, da war ich ziemlich auf mich gestellt. Da hatte ich eigentlich gar keine Kontakte. Erst später im Weglaufhaus traf ich auf Mitarbeiter, die mir einfach zugehört haben, ohne mir etwas aufzwingen zu wollen.

Würden Sie sagen, dass Ihr Leben nun wieder „in Ordnung“ ist?

Ja. Ich war von dem Projekt des Weglaufhauses von Anfang an überzeugt, ich habe es ja am eigenen Leib erfahren. Nun mache ich hier mit und fühle mich sehr wohl dabei – ich habe eine Aufgabe, die einen Sinn ergibt. Ehrenamtlich, leben muss ich von ALG II.

Mit Menschen in Krisensituation zu arbeiten kostet eine Menge Kraft, oder?

Ja. Noch mehr beinhaltet diese Arbeit aber den Willen, einen Menschen als anders zu sehen, anstatt ihn abzustempeln – erst dann wird es anstrengend. Man lässt sich dann ja nicht mehr wirklich auf ihn ein, sondern leistet Widerstand gegen dessen Wahrnehmung.

Viele Menschen sind schlicht überfordert, mit „ver-rückten“ Menschen umgeben zu sein, die nicht ruhiggestellt sind. Sie empfinden das als anstrengend.

Man bräuchte eben noch viel mehr Weglaufhäuser. In einer solchen Situation sind Freunde oder Verwandte meistens völlig überfordert. So eine Krisensituation zieht sich dann ja Tag für Tag über 24 Stunden. Wie soll das jemand schaffen, der einer geregelten Arbeit nachgeht.

Eine Welt ohne Psychiatrie – das würde doch im Gegenzug bedeuten, dass das soziale Umfeld der Betroffenen die Krisen auffängt. Das scheint nicht realistisch zu sein.

Natürlich nicht. In den überwiegenden Fällen ziehen sich die Familien zurück. Die wenigsten haben zudem Verständnis dafür, wenn jemand Wege jenseits der Psychiatrie wählt.

Dennoch müssen Sie auch hier mit der Psychiatrie zusammenarbeiten. Fällt Ihnen das schwer?

Ehrlich gesagt: ja. Ich war zum Beispiel bei einer Tagung des Bundesverbandes Psychiatriebetroffener in Kassel. Da saß dann ein Psychiater vor mir, der jahrelang sein Ding durchgezogen hat. Nun plötzlich ist seine eigene Tochter betroffen, und auf einmal sieht er die Dinge völlig anders. Jetzt frage ich mich: Soll man mit dem reden, oder soll man ihm einfach in den Hintern treten? Was machen die eigentlich die ganze Zeit in ihrem Studium?

Warum haben die Menschen Angst vor dem Verrücktsein? Hatte man auch Angst vor Ihnen?

Das ist eigentlich ein Thema, da möchte man gar nicht drüber reden. Das tut mir weh. Es ist wohl so, dass dass viele Menschen selbst Angst haben, „ver-rückt“ zu werden.

Die Anforderungen werden stärker, es wird immer schwieriger zu funktionieren.

Allerdings. Vielleicht hieß der Oberarzt auf meiner Station deshalb „Funktionsarzt“.