Ein Ypsilon

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

Schon am frühen Morgen bildeten sich gestern in Frankreich lange Schlangen vor den Wahlurnen. Am Mittag lag die Wahlbeteiligung mehr als 10 Prozent höher als bei den vorausgegangenen Präsidentschaftswahlen. Und am Nachmittag hatte sie die Höchstniveaus der vergangenen drei Jahrzehnte übertroffen. Immer wieder hatten WählerInnen ein Wort auf den Lippen: „historisch“. Viele sprachen an der Urne auch von „Gefühlen“. Der meistgenannte Vergleich: das Jahr 1981.

Damals zog mit François Mitterrand zum ersten Mal in der Geschichte der V. Republik ein Sozialist in den Élysée-Palast ein. Wie damals ist auch dieses Mal der Wahlausgang offen. Zuletzt sagten die großen Meinungsforschungsinstitute, die monatelang einen haushohen Sieg des Rechten Nicolas Sarkozy prognostiziert hatten, einen immer knapperen Ausgang voraus. Zwar blieb Sarkozy in dem Umfragen bis zum Schluss in Führung. Doch rückte ihm Ségolène Royal immer näher (siehe Grafik).

Zu den vielen unberechenbaren Faktoren in Frankreich, wo gestern mehr als 44 Millionen Menschen wählen durften, gehören mehr als drei Millionen ErstwählerInnen. Darunter nicht nur junge Erwachsene, sondern auch zahlreiche ältere Menschen, die sich erst wegen des „Schocks vom 21. April“ (2002) in die Wählerlisten eingetragen haben. Eine zusätzliche Mobilisierung von NeuwählerInnen in den „heißen“ Banlieues folgte auf die Unruhen vom Herbst 2005.

Anders als 2002 wechselte der aktuelle Wahlkampf von einem Thema zum anderen. Nachdem damals die angeblich bedrohte innere Sicherheit wochenlang im Vordergrund stand und letztlich ein wesentlicher Grund für das gute Abschneiden der Rechtsextremen war, änderten sich die Themen in den letzten Wochen alle paar Tage. Die Rechtsextremen und Rechten versuchten dieses Mal vergeblich, die innere Sicherheit und die Immigration in den Vordergrund zu rücken. Die kleinen Zwischenfälle im Wahlkampf – eine Schlägerei, die auf eine Schwarzfahrerkontrolle am Bahnhof Gare du Nord folgte, oder in der Nacht zu gestern die mehr als zehn verbrannten Autos in einer ruhigen Seitenstraße im Pariser Osten – gingen unter.

Dieses Mal traten mit „nur“ sechs Kandidaten auch weniger Linke an. Dennoch blieb für viele WählerInnen, deren politische Heimat links von der PS ist, die politische Landschaft unübersichtlich. Sie hätten es vorgezogen, dass die KPF, die trotzkistische LCR und der globalisierungskritische Bauer José Bové gemeinsam statt getrennt an die Urne treten, nachdem sie zwei Jahre zuvor gemeinsam Kampagne gegen die EU-Verfassung gemacht hatten. Auf der radikalen Linken machte im Wahlkampf der trotzkistische Postbote Olivier Besancenot den besten Eindruck. Seine Meetings waren beliebt, seine TV-Einschaltquoten hoch, und der Stil seiner Werbespots, in denen er mit Händen in den Hosentaschen vor Industrieanlagen oder Sozialbauten sagte: „Unser Leben ist mehr wert als ihre Profite“, gefiel.

Rechts machte der Auftritt von Bayrou den Wahlausgang unberechenbar. Der UDF-Chef, der seit 30 Jahren in wechselnden, aber immer rechten Allianzen und Regierungen Politik macht, bestritt dieses Mal einen Wahlkampf, in dem er „weder rechts noch links“ auftrat. Mehrere Herren aus der Spitze der PS, die sich von Royal überrumpelt fühlten, erklärten öffentlich ihre Unterstützung für Bayrou. Andere schlugen eine „Allianz“ mit dem Rechtsliberalen vor.

Die Stichwahl, aus der die oder der nächste PräsidentIn Frankreichs hervorgeht, findet am 6. Mai statt. Bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe standen gestern zwei Dinge fest: die oder der nächste BewohnerIn des Élysée-Palastes wird zwei Jahrzehnte jünger sein als der scheidende Jacques Chirac, und sie oder er wird ein Ypsilon im Nachnamen haben.