Ergraute warten auf rosige Zeiten

Alte in Berlin müssen hart um Berücksichtigung ihrer besonderen Bedürfnisse kämpfen. Experten fordern nun jederzeit abrufbaren Pflegeservice, mehr Selbstbestimmung und stärkere Rücksichtnahme auf die Psyche älterer Menschen

Der demografische Wandel wird bislang vor allem mit der Zunahme älterer Menschen und damit der Alterung der Gesellschaft in Zusammenhang gebracht. Pauschal sieht die Mehrheit darin mehr Schreckgespenst denn Chance. Nicht das Potenzial, das die Alten in die Gesellschaft einbringen, wird diskutiert, sondern die ältere Generation wird in erster Linie als eine Belastung wahrgenommen, deren Folgen die Jüngeren nicht mehr tragen können. Nur langsam ändert sich dieses festgefügte Bild.

In Berlin wird die Zunahme des Anteils älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung durch den ständigen Zuzug junger Leute weniger stark ausfallen als in Brandenburg. Dorthin zieht es laut Prognosen vor allem die Älteren. Für 2020 wird dabei ein Rückgang um etwa ein Fünftel der 30- bis 45-Jährigen erwartet. Und eine prozentuale Verdopplung bei Männern von 70 Jahren an aufwärts. Bei Frauen wird die Zunahme in dieser Altersgruppe nicht gar so stark ausfallen.

Eines allerdings lässt sich sagen: Berlin, sonst immer gerne Vorreiter, wenn es darum geht, gesellschaftliche Veränderungen auch politisch zu thematisieren, ist beim demografischen Wandel dieser Rolle bisher nicht gerecht geworden. Dies musste selbst der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit in seiner gestrigen Rede einräumen.

Immerhin gibt es in Berlin, als einziger Stadt bundesweit, ein Seniorenmitwirkungsgesetz und in jedem Bezirk eine Seniorenvertretung. Spricht man jedoch mit VertreterInnen, wird offensichtlich, dass sich die Alten bis dato jeden Zentimeter öffentliche Anerkennung ihrer Bedürfnisse hart erkämpfen müssen. Da geht es doch plötzlich wieder um die größere Schrift auf Hinweisschildern auf der Straße oder im Supermarkt und den Mangel an Aufzügen in Wohnhäusern oder U-Bahnen. Und nicht darum, wie die Alten ihre Potenziale – Lebenserfahrung, Bereitschaft zu bürgerschaftlichem Engagement, Zeit und Wissen – einbringen können.

„Nicht nur die Probleme des Klimawandels müssen bei der Umgestaltung der Mietshäuser eine Rolle spielen, sondern auch die Anpassung an die Älteren“, fordert Bernhard Farnold, Seniorenbeauftragter aus Spandau. Er versteht seine Äußerung durchaus als Kritik an der kommunalen Wohnungspolitik. Denn klar sei, dass es älteren Menschen – solange es nur geht – ermöglicht werden muss, selbstständig zu leben. Die Alltagsbewältigung darf jedoch, aufgrund der Ausrichtung der Kommunen auf Junge, nicht deren ganze Energie aufsaugen.

Auch die Pflege müsse neu organisiert und inhaltlich geändert werden, sagt Inge Frohnert vom Arbeitskreis Berliner Senioren. Stichworte sind: Serviceleistungen rund um die Uhr, zertifizierte Pflegeleistungen, Selbstbestimmung und Selbsthilfe. Alte sollten nicht hilflos sein und in Abhängigkeit gehalten werden, sondern in die Lage versetzt werden, die Hilfe anzufordern, die sie benötigen.

Dies zu können gehöre auch zu den Potenzialen der SeniorInnen, sei aber zudem eine Frage der Bildung und der finanziellen Möglichkeiten, urteilt Peter Zeman vom Deutschen Zentrum für Altersfragen. Das Forschungsinstitut in Berlin berät unter anderem die Bundesregierung. Derzeit werde diskutiert, so Zeman, ob ein neuer Pflegebegriff fällig ist, der nicht nur medizinisch die körperlichen Beeinträchtigungen im Fokus habe, sondern auch mentale und psychische Komponenten umfasse.

WALTRAUD SCHWAB