Der Zweite soll Erster werden

Der türkische Premier Tayyip Erdogan nominiert seinen Außenminister Abdullah Gül als Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen. Güls Sieg gilt als sicher

ISTANBUL taz ■ Nach monatelangen Debatten, Massenprotesten und Ermahnungen von allen Seiten an die Führung der regierenden AKP fiel gestern die Entscheidung: Neuer Präsident der Türkei soll der bisherige Außenminister Abdullah Gül werden. Nachdem der Druck auf Ministerpräsident Tayyip Erdogan, nicht selbst für das höchste Staatsamt zu kandidieren, immer größer geworden war, verkündete er gestern seinen Verzicht und kündigte gleichzeitig die Nominierung seines Vizes im Parteivorsitz, Abdullah Güls, an.

Die AKP verfügt im Parlament über eine komfortable Mehrheit, so dass der Wahl Güls im dritten Wahlgang – in den ersten beiden Wahlgängen ist eine Zweidrittelmehrheit erforderlich – wohl nichts mehr im Wege steht.

Die Türkei ist vor der Wahl in zwei tief verfeindete Lager gespalten. Auf der einen Seite die religiösen und sonstigen Unterstützer der AKP, auf der anderen Seite das nichtreligiöse, laizistisch-kemalistische Lager. Nicht nur Bürokratie, Justiz und Militär – traditionelle Hochburgen der Kemalisten – hatten sich gegen eine Kandidatur Erdogans gewand. Auch der größte Teil der urbanen städtischen Bevölkerung befürchtet eine Reislamisierung, wenn die AKP außer dem Ministerpräsidenten und den Parlamentspräsidenten nun auch noch das Amt des Staatspräsidenten besetzten wird.

Die Nominierung von Abdullah Gül entspricht deshalb nicht den Erwartungen der Opposition, die gehofft hatte, Erdogan würde doch noch einen Kandidaten vorschlagen, den beide Seiten als konsensfähig ansehen. Gül ist zwar ein sehr viel integrativerer Mann als der polarisierende Ministerpräsident Erdogan. Politisch sind sich beide aber weitgehend einig. Dazu kommt, dass Frau Gül eine überzeugte Kämpferin für das islamische Kopftuch ist, die vor dem Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg geklagt hatte, weil sie nicht mit Kopftuch an der Universität studieren durfte.

Abdullah Gül ist aus Sicht des laizistischen Lagers sicher nicht der Mann, der die Gräben überbrücken könnte. Für seine Nominierung dürfte denn auch ausschlaggebend gewesen sein, dass die AKP-Spitze davon ausgeht, bei den Parlamentswahlen im November mit Erdogan an der Spitze bessere Chancen zu haben, als wenn dieser ins Präsidentenamt abgewandert wäre und Gül die Partei in den Wahlkampf hätte führen müssen.

Das Präsidentenamt ist protokollarisch und auch vom Prestige her das erste Amt im Staate, die Macht liegt aber eher beim Premier. Hat der Präsident die Mehrheit im Parlament gegen sich, kann er zwar einiges verhindern, aber nicht die Richtlinien der Politik bestimmen.

Die entscheidende Weichenstellung für die politische Zukunft der Türkei kommt deshalb bei den Parlamentswahlen. Kann die AKP dann erneut eine absolute Mehrheit der Sitze erreichen, wird sie in den kommenden vier Jahren alle Fäden in der Hand haben. An der Europapolitik der Türkei würde sich aber auch in diesem Fall wohl nicht viel ändern. Erdogan bräuchte auf die Opposition zwar weniger Rücksicht nehmen, die AKP ist aber selbst von den bisherigen Verhandlungen so enttäuscht, dass sie wenig geneigt sein dürfte, weitere Kompromisse zu machen. Der erste Wahlgang der Präsidentschaftswahlen wird an diesem Freitag stattfinden. Gewählt sein muss der neue Präsident bis spätestens zum 16. Mai.

JÜRGEN GOTTSCHLICH

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