DIE BEERDIGUNG BORIS JELZINS ZEIGT DIE FURCHT DES KREMLS
: Der letzte Zeuge

Nicht nur die Behandlung der Lebenden sagt etwas über das Wesen einer Herrschaft aus, auch der Umgang mit seinen Toten gibt Auskunft. Russland ist ein Land des Totenkults. Der von der Macht gebeutelte Bürger gelangt in der russischen Kultur erst über seinen Tod zu Würde. Die politische Elite verstand sich nämlich schon immer gut darauf, im Eigeninteresse Lebensläufe in Leidenswege zu verwandeln.

Doch selbst diese posthume Huldigung ist Boris Jelzin nicht mehr zuteil geworden. Der Kreml reagierte langsam und minimalistisch auf das Ableben des erratischen Reformers. Als wolle man sich schnellstens des letzten Zeugen des Experiments Demokratie entledigen. Nicht alle Staatsmänner schafften es in der Kürze nach Moskau. Viele kamen dennoch, unter ihnen die ehemaligen Kollegen Clinton und Bush senior. Der Austausch des Kremls mit westlichen Staatsmännern sank unterdessen 2006 auf ein Drittel des Vorjahres. Verständlich also, dass die erwiesene Teilnahme die Machthaber schmerzen muss.

Je näher die Präsidentschaftswahlen rücken, desto unsicherer reagiert das Machtzentrum auf alles, was sich der Inszenierung entzieht. Unlängst verwandelten Sicherheitskräfte Moskau und St. Petersburg in militärische Festungen und knüppelten die marginale Opposition nieder. Dabei hat der Kremlchef nichts zu fürchten. Er bleibt in der Volksgunst Quotenkönig. Furcht und Empfindlichkeit müssen andere Ursachen haben. Zukunftsangst vielleicht?

Mit Boris Jelzin wurde ein Stück Zukunft zu Grabe getragen. Der Kreml kehrte zu einem Lenkungsmodell zurück, das sich Modernisierung verweigert. Schon jetzt zeigt sich trotz günstigster Energiekonjunktur: Frühere Sowjetrepubliken ziehen wirtschaftlich an Moskau vorbei. Selbst die krisengeschüttelte Ukraine legt mehr Dynamik vor und bestätigt die banale Einsicht, dass Demokratie und Markt langfristig Wohlstand und Stabilität fördern. Bevor das Land wieder dort anknüpft, wo Jelzin scheiterte, werden wohl noch zwei Jahrzehnte verstreichen. KLAUS-HELGE DONATH