Die Durchwurschtler

Wenn von Existenzgründern die Rede ist, sind sie nicht gemeint: Die Selbständigen, die sich mit mehreren Jobs über Wasser halten müssen. Die klassische Mittelstandsförderung geht an ihren Bedürfnissen vorbei, sagt der Sozialwissenschaftler Christoph Spehr und fordert eine Infrastruktur

Christoph Spehr: „Die sitzen nicht im Café, die flitzen herum“

von Eiken Bruhn

Konzertveranstalter, freier Journalist und ab und an legt er als DJ auf: Sean-Patric Braun ist Existenzgründer und würde sich selbst nie so nennen. Auch für andere ist er als solcher nicht zu erkennen, in den zahlreichen Gründungs-Broschüren tauchen Existenz-Modelle wie seins nicht auf. Dafür ist sein Profil zu unstimmig, um zu überleben macht er dieses und jenes. „Durchwurschteln“ könnte man diese Art der Selbständigkeit nennen. Sie ist gekennzeichnet davon, dass die Betroffenen sich mit mehreren Jobs gleichzeitig über Wasser halten, auch wenn sie sich lieber auf einen konzentrieren würden. PR-Texte schreiben, Flyer gestalten und verteilen, Musikunterricht und Nachhilfe geben, Kongresse organisieren – was halt so gebraucht wird in einer Stadt wie Bremen, in der um jeden Cent gerungen wird. Manche sind mit ein paar Wochenstunden „fest angestellt“. Viele machen einen ihrer Jobs, ohne Steuern zu zahlen, es würde sich sonst für sie nicht lohnen.

Für Braun bedeutet das beispielsweise, dass der „Bremer“ auf einen Text wartet, während er gleichzeitig die Schlachthof-Zeitung „Zett“ produziert und für „Koggepop“ ein Konzert organisiert. Und vielleicht abends noch im „Römer“ als DJ gebucht ist. Als Problem erlebt der 35-Jährige seinen Arbeitsalltag nicht, er kennt es nicht anders und schätzt die Freiheiten, die er hat. Er ist gerne selbständig, könnte aber darauf verzichten, auf so vielen Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen. „Klar würde ich gerne nur die Konzertagentur betreiben, aber noch kann ich davon nicht leben“, sagt er.

Durchwurschtler sind keine Beispiele für eine gescheiterte Existenzgründung, sondern Alltag in einer Gesellschaft, in der Festanstellungen zur Ausnahmeerscheinung werden. So sieht es auch Stefan Röber, Berater bei der Bremer Existenzgründungsinitiative. Gerade nach der Umsetzung der Hartz IV-Reform habe es viele „Notgründungen“ gegeben, um dem Abrutschen in ALG II zu entgehen. „Da haben viele mit Recht Panik bekommen.“ Außerdem würden in den freien Berufen wie Architektur oder Werbung die Kernteams immer kleiner werden, die sich für einzelne Projekte freie Mitarbeiter dazuholen würden.

Um auf dem Markt zu bestehen, rät er dazu, sich möglichst zu spezialisieren – auf eine Zielgruppe oder eine Kompetenz. „Wenn man mit einem Bauchladen herumrennt, wird man in einer komplexen Arbeitswelt schnell unglaubwürdig“, so Röber. Besser – auch für die Außendarstellung – sei ein klares Profil. Auf diese Weise könne man auch vermeiden, Aufträge nur zu bekommen, weil man der billigste Anbieter ist. „Das ist ruinös.“ Höhere Honorare könne man fordern, wenn der Kunde oder die Kundin den Eindruck hat, hier versteht jemand etwas von dem, was er tut. Als Beispiel nennt er einen Geisteswissenschaftler, der „alles Mögliche konnte“, von Webdesign zu Pressetexten. Ihm riet er, sich auf das Segment zu spezialisieren, von dem er mehr versteht, als „der normale EDVler“: Den Wissenschaftsbetrieb. Allerdings sieht auch Röber das Problem, dass viele gar keine andere Wahl haben als möglichst viele Aufträge anzunehmen. „Ich weiß, dass das sehr theoretisch klingt, wenn man sagt, man müsse sich Nischen schaffen.“

Auch der Politikwissenschaftler Christoph Spehr sagt, „er wurschtle sich durch“. Keine Homepage preist sein einzigartiges Profil. Der 43-Jährige arbeitet für die Linkspartei, die Rosa-Luxemburg-Stiftung, hält Vorträge, schreibt Bücher und Artikel und hat sich mit dem Thema des „kreativen“ oder „prekären“ Mittelstand auseinander gesetzt. Kreativ oder prekär: „Je nachdem, ob man über die Bedeutung oder die Bezahlung redet.“ Für ihn sind die vielen Durchwurschtler kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem. Die klassische Mittelstandsförderung – etwa über Existenzgründungsberatung – ginge an den Bedürfnissen dieser Zielgruppe vorbei. Und das, obwohl Städte wie Bremen auf solche Anbieter kreativer Dienstleistungen dringend angewiesen seien. „Digitale Boheme“ werden sie manchmal genannt. Spehr mag den Begriff nicht besonders. „Dahinter steckt so ein Bild, als würden die den ganzen Tag mit ihrem Notebook im Café sitzen.“ Die Bohemians hingegen, die er kenne, seien permanent überlastet, „die flitzen von einem Auftrag zum nächsten und können nichts richtig machen“. In anderen Ländern wie in den Niederlande und Frankreich würde ihnen mit Gemeinschaftsbüros eine Infrastruktur zur Verfügung gestellt, mit dem angenehmen Nebeneffekt, dass auf diese Weise auch eine Kontaktbörse entsteht. „Das könnte man in Bremen in der Überseestadt auch machen.“

Den Bedarf hält er für „enorm“, ein paar tausend Leute, so schätzt er, seien in Bremen betroffen, er selbst und viele seiner Freunde und Bekannten eingeschlossen. Früher, das heißt vor den Hartz-Reformen, hätten sich viele mit Fördermaßnahmen – „BSHG 19“ – über Wasser gehalten, waren also für befristete Zeiträume angestellt. Zuständig fühle sich niemand für sie, nicht einmal sie selbst würden ihre Interessen vertreten. „Das läuft über den Superindividualismus, sie lassen sich gegeneinander ausspielen.“

Frauen, so Spehrs Beobachtung, hätten auf das freie Leben übrigens nach ein paar Jahren oft keine Lust mehr. „Die sagen, das war ’ne Phase und suchen sich eine Festanstellung.“ Männer schienen den Absprung nicht zu schaffen. „Meine Freundin sagt auch immer, ‚du willst ja gar keinen festen Job‘.“ Vielleicht habe sie recht, sagt Spehr. „So kann ich immer neue interessante Sachen machen.“