berliner szenen Das volle Programm

Die Nach-dem-Film-Welt

Kurz nach Mitternacht, irgendwo bei Potsdam. Ein Junge mit Hose in den Knien und Knopf im Ohr wackelt durch die S-Bahn und rappt laut mit: „Ihr habt mich begraben, ihr hättet mich verbrennen sollen.“ Er will kein Geld, nur Aufmerksamkeit. Doch die ist hier Mangelware. Das unfreiwillige Publikum besteht zum Großteil aus Besuchern des Sehsüchte-Studentenfilmfestivals.

Den ganzen Tag haben sie die Kreationen der Nachwuchsfilmemacher angeschaut. Jetzt starren die Augen ins Leere, müde und genervt. Der MC steht mit glasigem Blick im Fahrradabteil, schiebt die gespreizten Finger durch die Luft, greift sich ans Gemächt. Das volle Programm. „Osdorf“, murmelt jemand. Der gleichnamige Dokumentarfilm über den Hamburger Problemstadtteil war ein Höhepunkt des Festivals: Ein unprätentioses Porträt von Jugendlichen am sogenannten Rand der Gesellschaft. Man sah Hochhäuser, davor Teenager auf Kinderschaukeln, die ihre Vorstrafenregister wie Tracklisten herunterratterten und von bürgerlichen Idealen schwärmten. Die emotionale Nähe zu den Ghettorappern, die man im Kino gerade noch erlebte, bleibt in der S-Bahn nach Hause auf der Strecke. Das hier ist real, ohne körperliche Distanz. Breitbeinig lässt sich der MC neben eine junge Frau fallen, die hilfesuchend um sich blickt.

„Ey Alter, lass das Mädel in Ruhe“, mahnt einer der Studenten. Der MC erhebt sich gestenreich, Verbalattaken spuckend. Das Testosteron kocht. Dann pfeift ein Fuß in Höhe der Studentennase durch die Luft. Brust an Brust knallen zwei Welten aufeinander. Sekundenlang halten alle den Atem an. Der Student ist einen Kopf größer. Mit einem finalen „Fickt euch, ihr Wichser!“ steigt der MC am Westkreuz aus. Schnitt. Ende. LEA STREISAND