berliner szenen Am Fenster

Hier geblieben!

Dich nie wiederzusehen, mit diesem Gedanken kann ich mich wahrscheinlich sogar abfinden. Aber nicht zu wissen, wie es dir gerade geht und wie es sein wird in deiner Heimat, das ist schlimm.

Auf dem Sessel liegt noch deine Mütze. Und das zusammengerollte Magazin, mit dem du gestern Abend versucht hast, eine Fliege an die Wand zu klatschen. Wie ein kleiner Junge bist du lachend von einer Lehne über die nächste geklettert und hast ständig gerufen: „Hier geblieben, Nervensäge!“, aber du warst viel zu betrunken, um noch richtig zielen zu können. Außer uns beiden war keiner mehr wach – bis zu dem Zeitpunkt, als du über das Kabel gestolpert bist und die Stehlampe ins Fenster gekracht ist. Wenn du gewusst hättest, dass es dein letzter Abend in Deutschland ist, wären wir vielleicht rüber in den Park geradelt, mit Bier und Zigaretten, und ich hätte versprochen, dich nicht zum Untertauchen überreden zu wollen. Denn einfach weg zu sein, so, als gäbe es dich nicht mehr – dafür warst du viel zu stolz.

Heute morgen um 4.55 Uhr war es so weit. Ich lag regungslos auf dem Bett, spürte meinen Herzschlag überall im Kopf, während am Ende des Gangs Türen schlugen und Polizisten redeten. Es ging alles sehr schnell über die Bühne. Dann haben sie dich rausgefahren zum Flughafen, zusammen mit den beiden Familien aus dem Kosovo. Wahrscheinlich hat man dich sogar bis hinein an deinen Platz gebracht. Wenn es irgendwann so weit ist, hast du immer gesagt, dann möchte ich wenigstens einen Fensterplatz. Damit ich die Spree und alles, was ich hinter mir lasse, nochmal von oben sehe. Und auch wenn du mein Winken draußen vorm Haus nur erahnen konntest, ich hoffe, du hattest eine gute Sicht. JOCHEN WEEBER