Am Arsch und am Nabel der Welt

Für ihr Buch „Kreuzberg keine Atempause“ hat sich die Journalistin Dorothee Hackenberg mit 19 Alt-, Neu- und Ex-Kreuzbergern unterhalten und dabei herausgefunden, warum es dem Problemkiez gelingt, sich immer wieder von selbst zu verjüngen

VON CHRISTIANE RÖSINGER

Kreuzberg und kein Ende. Morgen also jährt sich der berühmte 1. Mai 1987, die kurze Nacht der Anarchie, zum 20. Mal,und passend zum Jubiläum ist ein Kreuzbergbuch erschienen. In „Kreuzberg keine Atempause“ porträtiert radioeins-Mitarbeiterin Dorothee Hackenberg 19 Kreuzberger und lässt sie erzählen, wie sich der Bezirk verändert hat.

Im Vorwort gibt sie einen kurzen Überblick über den einstigen Szenebezirk. „Längst ist auch in Kreuzberg das Geld eingezogen“, heißt es da, als Beleg gilt die „Szenemeile“ am Schlesischen Tor. Dabei ist doch die seit Mauerfall befürchtete oder herbeigesehnte Gentrification in Kreuzberg bis dato ausgeblieben, und auch nach 17 Jahren als Innenstadtbezirk gibt es noch genug Dreck, Elend und Probleme, während es an Kaufkraft und Jobs mangelt.

Die Interviews mit den 19 Ex-, Neu- und Altkreuzbergern werden im Fließtext nacherzählt und mit Zitaten angereichert, Wohnungsbeschreibungen und biografische Anmerkungen ergänzen den Text. Politiker und Polizisten, Pfarrer und Aktivisten, Künstler, Musiker, Kulturschaffende und Unternehmer kommen zu Wort. Die erklären sich die Straßenschlacht vor 20 Jahren je nach Weltsicht als Ausdruck sozialer Unzufriedenheit, revolutionären Akt, westdeutschen Abenteuertourismus, interessante Kunstaktion oder schwäbisches Randalierertum.

Die gute alte Einteilung zwischen Kreuzberg 36 und 61 funktioniert heute immer noch. Während sich in den 80ern die Bewohner von S0 36 gerne von den 61ern distanzierten (Spießer, bürgerlich, langweilig), sind es heute die 61-Kreuzberger Lucy van Org und Fritzi Haberland, die nicht nach 36 wollen, weil es dort „zu krass“ sei oder weil „seit 10 Jahren die gleichen Leute am Tresen sitzen“. Bei manchen Interviews hält sich der Erkenntniswert zum Thema sehr in Grenzen. Wenn dazu eine unspektakuläre Biografie ausgebreitet wird, kann es zäh werden.

Andere wie der Comiczeichner Seyfried erzählen anschaulich vom Kreuzberger Straßenbild der 70er: „Fünfstöckige Mietskasernen, grau und schwarz, noch vom Krieg verrußt, zernarbt von Einschüssen und Bombensplittern“. Und auch in den Achtzigern wird Kreuzberg von den Zeitzeugen als dunkler, dreckiger Stadtteil am Arsch der Welt, von drei Seiten eingemauert, beschrieben.

„Keine Atempause“ macht auch deutlich, wie überschaubar Kreuzberg damals war: Dimitri Hegemann (Fischbüro, Tresor), Wolfgang Müller (Tödliche Doris), Alfred Metzger (Rockpalast), Die Einstürzenden Neubauten und Dr. Motte – alles alte Bekannte aus dem kleinen Westberlin der 80er. Und so drehen sich die Geschichten immer wieder ums SO 36 und das NKZ, um den Heinrichplatz und die Straßen an der Oberbaumbrücke. Selig die Zeiten, als Wolfgang Müllers Altbauwohnung in der Waldemarstraße 90 Mark kostete!

Die türkischstämmige Bevölkerung wird durch die Porträts der Rapperin Aziza und des Volkstanzaktivisten Muzaffer Topal nur schwach vertreten. Dazu befragt, was den Mythos Kreuzberg ausmacht, sind sich aber alle einig: Mehr Vielfalt, mehr Toleranz als woanders, die Menschen pflegen ihr gesundes Misstrauen gegenüber Polizei und staatlichen Institutionen.

Kreuzberger unter 30 kommen in dem Interviewband nicht zu Wort, und so bleibt die Frage offen, wie es dieser einstige Szene-dann-Loser-jetzt wieder-Innenstadt-Bezirk geschafft hat, anziehend zu bleiben und nicht zu verspießern. Vielleicht weil junge Leute, die in Kreuzberg aufgewachsen sind, dem Bezirk treu bleiben. Oder vielleicht weil das Wohnen in Problemkiezen auch Vorteile haben kann: Junge Familien mit gehobenen Ansprüchen ziehen weg, weil sie ihre Kinder nicht auf die Kreuzberger Schulen mit hohem Migrantenanteil schicken wollen – eine bürgerliche Mittelschicht siedelt sich also nicht an. Und so hat in Kreuzberg auch das Problematische seine guten Seiten.

Dorothee Hackenberg: „Kreuzberg keine Atempause“, be.bra-Verlag, Berlin 2007, 127 Seiten, 9,80 Euro