Drohung in der Nacht

Das Militär malt einen Putsch an die Wand. Hunderttausende demonstrieren für den Laizismus

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Die Innenstadt Istanbuls ertrank in einem Fahnenmeer. Hunderttausende, eine halbe Million, vielleicht auch eine Million Menschen waren da. Sie waren nicht zu zählen, aber jeder und jede hatte die türkische Fahne in der Hand. Der von den Veranstalterinnen der Demonstration ausgegebene Slogan lautete zwar, „Keine Scharia, kein Putsch“, aber die eigentliche Parole der Demonstration war: „Die Türkei ist laizistisch und muss laizistisch bleiben“. Und: „Kein Mullah in den Präsidentenpalast“.

Der Hintergrund der Demonstration war die kaum verhüllte Putschdrohung durch die oberste Spitze des türkischen Militärs in der Nacht von Freitag auf Samstag. Dabei hatte Generalstabschef Yasar Büyükanit per Internet in dem nun sogenannten Mitternachtsmemorandum verkünden lassen, das Militär sehe die laizistische Ordnung des Landes als bedroht an. Es werde, wenn notwendig, nicht zögern, eindeutig Position zu beziehen. Die gestrige Massendemonstration in Istanbul war der bislang letzte Höhepunkt in der Auseinandersetzung um den kommenden Staatspräsidenten des Landes.

Für die Masse der Demonstranten, darunter mindestens die Hälfte weiblich und – natürlich – ohne Kopftuch, ist die jetzt anstehende Wahl des Staatspräsidenten zu der entscheidenden Auseinandersetzung um die Zukunft des Landes geworden. Dabei geht es kaum noch um den konkreten Kandidaten Abdullah Gül. Es geht vielmehr insgesamt darum, dass der laizistische, kemalistische und weltliche Teil der Türkei den entscheidenden Dammbruch darin sieht, wenn nach dem islamisch grundierten Ministerpräsident Tayyip Erdogan, dem islamisch-konservativen Parlamentspräsidenten Bülent Arinc nun auch noch das Amt des Staatspräsidenten durch einen Vertreter der AKP besetzt würde.

Der Konflikt schwelt bereits seit Monaten. Seit letztem Herbst trommelt die kemalistisch-nationalistische Oppositionspartei CHP mit Unterstützung des noch amtierenden Präsidenten Ahmet Necdet Sezer und dem Militär dafür, dass die im Mai turnusgemäß anstehende Wahl eines neuen Staatspräsidenten nicht mehr durch das jetzige Parlament erfolgt, dessen Legislaturperiode im Sommer endet. Dieser Teil der Opposition fordert dagegen, dass die Wahlen vorgezogen werden, damit dann ein neu gewähltes Parlament den Staatspräsidenten wählen kann.

Im jetzigen Parlament hat die islamisch grundierte AKP von Ministerpräsident Erdogan und Außenminister Gül eine satte absolute Mehrheit. Sie kann deshalb im dritten Wahlgang, wenn keine Zweidrittelmehrheit mehr erforderlich ist, einen Kandidaten ihrer Wahl zum Staatspräsidenten machen.

Was auf den ersten Blick wie eine normale demokratische Prozedur aussieht, wäre in den Augen vieler Türken allerdings eine Kulturrevolution. Noch nie in der 84-jährigen Geschichte der türkischen Republik gab es einen Staatspräsidenten, der nicht aus dem kemalistisch-laizistischem Lager kam. Ein Präsident aus der AKP, so die Befürchtung, würde einer Re-Islamisierung des Landes Tür und Tor öffnen.

Vor zwei Wochen hatte das laizistische Lager das erste Mal in Ankara mobil gemacht. Es kamen rund eine halbe Million Menschen. Unter anderem dieser Protest bewog Erdogan dazu, nicht mehr selbst für die Präsidentschaft anzutreten, sondern seinen Stellvertreter und Außenminister Abdullah Gül als Kandidaten für den Präsidentenposten vorzuschlagen. Gül gilt allgemein als integrativer und versöhnlicher als Erdogan. Für die Opposition war das jedoch kein ausreichendes Angebot. Sie blieb dem ersten Wahlgang zur Präsidentenwahl am letzten Freitag geschlossen fern und versuchte so, die Abstimmung ungültig zu machen. Noch während im Parlament gewählt wurde, beantragte die größte Oppositionspartei, die kemalistisch-nationalistische CHP, vor dem Verfassungsgericht, den ersten Wahlgang zur Präsidentenwahl für ungültig erklären zu lassen.

Wie um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, veröffentlichte der Generalstab dann einige Stunden später sein Ultimatum auf seiner offiziellen Website. Am Samstag hielt Regierungschef Erdogan zunächst noch dagegen. Die Armee untersteht dem Ministerpräsidenten, ließ er seinen Sprecher verlesen, Erklärungen der Armee gegen die Regierung darf es nicht geben. Bei einer Veranstaltung des Roten Halbmond ergriff Erdogan am Samstagabend auch selbst das Wort. Er drohte indirekt damit, das Volk zu mobilisieren.

Zunächst aber reagierte gestern die andere Seite des türkischen Volkes. Noch während die Demonstration lief, sprachen Beobachter bereits davon, dass es sich um den größten Volksauflauf in der Geschichte der türkischen Republik handele. „Erdogan ab nach Iran“ war einer der Slogans, den die DemonstrantInnen ihm dort entgegenhielten. Dass die Generäle zuvor offen damit gedroht hatten, die demokratischen Regeln kurzerhand außer Kraft zu setzen, störte die meisten der Demonstranten offenbar wenig. Entweder war es ihnen egal, oder sie sehen die Armee, als Hüterin der laizistischen Ordnung, als ihre natürliche Verbündete an.

Die Stimmen derjenigen in der Türkei, die sich in dem täglich eskalierenden Konflikt zwischen Islam und Laizismus weder von der einen noch von der anderen Seite vereinnahmen lassen wollen, verschwinden derzeit immer mehr im Hintergrund. Nur eine Handvoll Leute aus dem weltlichen, demokratischen Lager des Landes erinnern zurzeit noch daran, dass das Militär in dieser Situation auf keinen Fall eine Lösung sein kann. Einer von ihnen ist der bekannte Journalist Hasan Cemal. In einer Diskussionsrunde im Fernsehen sagte er: „Als ein Zivilist und Demokrat kann ich zu dem Mitternachtsmemorandum der Militärs nur nein sagen.“ Bis heute, so Cemal, habe sich das Land von dem Putsch am 12. September 1980 „noch nicht wirklich erholt“.

Eine Schlüsselstellung in der Fortsetzung des Konflikts hat nun das Verfassungsgericht. Entweder heute oder spätestens morgen wollen die elf Verfassungsrichter verkünden, ob sie dem Eilantrag der Opposition stattgeben und den Wahlprozess zur Präsidentenwahl bis zur abschließenden Klärung der strittigen Verfahrensfragen aussetzen.

Sollte das oberste Gericht so urteilen, könnte Ministerpräsident Erdogan tatsächlich die Flucht nach vorn antreten: Er könnte das Parlament auflösen und schnellstmöglich Neuwahlen durchführen. Die Präsidentenwahl würde dann, wie von der Opposition gefordert, im neuen Parlament stattfinden. Und insgesamt würden die Karten – erst einmal – neu gemischt.