„Wenigstens keine Minusrunde“

Gewerkschaften und SPD rufen am 1. Mai nach Mindestlöhnen – und treffen einen Nerv im Publikum

BERLIN taz ■ Der Kampf für einen gesetzlichen Mindestlohn und gegen Armutslöhne, die Tarifverhandlungen der Metaller und bei der Telekom, die Angst der Menschen um ihren Arbeitsplatz: Die Themen auf den Kundgebungen des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) waren am Tag der Arbeit vielfältig. Bundesweit gingen mehr als 500.000 Menschen auf die Straße, um gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse und für höhere Löhne zu demonstrieren. Und zwar für deutlich höhere, wie DGB-Chef Michael Sommer klarstellte. Niemand in Deutschland solle „für weniger als 7,50 Euro arbeiten“, sagte Sommer auf der zentralen Kundgebung in Gelsenkirchen: „Millionen arbeiten für Hungerlöhne.“ Dies „ist und bleibt ein sozialer Skandal“. Ver.di-Chef Frank Bsirske warf der Union vor, sie verweigere sich dem Mindestlohn mit Scheinargumenten. Auch Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD) bekräftigte gestern noch einmal seine Forderung nach branchenbezogenen Mindestlöhnen: „Man muss den Menschen Geld geben, damit sie etwas kaufen können“, sagte er im westfälischen Ibbenbüren. SPD-Chef Kurt Beck sagte auf der Kundgebung des DGB Rheinland-Pfalz in Wörth: „Wir werden in der großen Koalition darum ringen, jeden gangbaren Schritt in diese Richtung auch zu gehen.“

Von den insgesamt 450 Demonstrationen und Kundgebungen unter dem Motto „Du hast mehr verdient!“ war die DGB-Veranstaltung in Berlin eine der größten. Rund 12.000 Teilnehmer zog es vor das Brandenburger Tor – auch Beate M. Die 47-jährige Bauingenieurin wollte mit ihrem Erscheinen ein deutliches Zeichen setzen – für die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns. Obwohl sie sich selbst als „Gutverdienerin“ bezeichnet: „Mit 3.800 Euro brutto kann ich eigentlich nicht klagen.“

Vom wirtschaftlichen Aufschwung der letzten Monate verspricht sich Beate dennoch nicht viel. Ihr Unternehmen ist schon vor Jahren aus dem Arbeitgeberverband ausgetreten, seitdem wird sie nicht mehr tariflich bezahlt. Zudem ist das Weihnachtsgeld gestrichen worden, die letzte Lohnangleichung an die Inflationsrate gab es 2001. „So haben wir seit Jahren faktisch Minusrunden“, sagt die zweifache Mutter. Und ihre Kinder seien auch der eigentliche Grund, warum sie auf die Kundgebung gekommen ist: um sich dafür einzusetzen, dass sie später „ein sicheres Einkommen – ach, überhaupt ein Einkommen haben“, sagt sie. Und da sei der Mindestlohn eben ein geeignetes Mittel.

Fünf Reihen weiter vorn klatscht Michael S. lautstark in die Hände. Ein DGB-Redner hat soeben verkündet, eine „neue Form von Sklaverei werden wir nicht zulassen“. Für Michael sind das keine leeren Worthülsen. Seit zehn Jahren arbeitet er in einem Einzelhandelsbetrieb am Rande Berlins. Er erzählt, wie er anfangs kurz nach der Lehre noch ein Bruttogehalt von 2.300 Mark hatte, inzwischen aber mit einem „Netto-Tausender“ monatlich auskommen muss, und damit noch mehr hat als andere in der 40-Mann-Firma. „Der jetzige Aufschwung geht an mir völlig vorbei. Tariflich werde ich eh nicht bezahlt, im Grunde habe ich seit Jahren ein Minus“, sagt der 31-Jährige mit Blick auf die steigenden Lebenskosten. An einen Lohnsprung glaubt der Berliner trotz des Aufschwungs nicht. „Da kommt nix. Wer bitte soll denn meinen Chef unter Druck setzen? Müntefering? Der wohnt doch in einer anderen Welt.“

Die Konsumfreude der Deutschen nutze sein Chef inzwischen als Druckmittel. „Ganz nach dem Motto: Bring erst mal mehr Leistung. Ich zahle euch mehr, wenn ihr mehr verkauft“, beschreibt Michael die ökonomische Zwickmühle. Durch die im Betrieb jetzt diskutierte Provisionsorientierung würde Michaels Grundgehalt aber auf 750 Euro sinken. Um über die Provision auch in Zukunft seinen jetzigen Lohn halten zu können, müsste er allein 40.000 Euro Umsatz machen. In der Testphase schaffte dies nur die Hälfte der Belegschaft.

Obwohl sich seine finanzielle Situation auch mit einem gesetzlichen Mindestlohn nicht bessern würde, plädiert er für dessen Einführung. „Das wäre ein erster Schritt. Und über eine Stagnation würde ich mich ja schon freuen“, sagt Michael. VEIT MEDICK