NICHT GANZ
: Das Kleid

Ich fühlte mich der Aufgabe gewachsen

Die Tage vergingen. Der Abend, an dem das Kleid präsentiert werden sollte, rückte näher. A. hatte lange an ihrer Abschlussarbeit gesessen und war sehr aufgeregt. Ich beruhigte sie. Alles würde rechtzeitig fertig und gut werden und natürlich würde ich an dem Abend dabei sein.

An dem Abend stand ich mit der Schneiderin und ihren Freunden hinter der Bühne. Ich gehörte zu ihnen, wenn auch nicht ganz, doch gerade in diesem „Nicht-ganz“ fühlte ich mich am wohlsten. Die Stimmung war gelöst, wie oft an sehr wichtigen Tagen. Alle waren auf eine entspannte Weise aufgeregt, redeten viel und rätselten, wer das Kleid vorführen würde. Der Saal ähnelte dem Delphi und füllte sich langsam. Eine Stunde vor der Vorführung sagte A., man habe entschieden, dass ich das Kleid vorführen sollte. Ich freute mich sehr. Es war ein großer Vertrauensbeweis, ihr Werk vorführen zu dürfen, das dadurch, dass ich es tat, eine andere, sozusagen existenziell-ironische Note bekam. Ich fühlte mich der Aufgabe gewachsen (Ich war ja Profi: Wenn man mich um sechs Uhr morgens für eine Lesung vor großem Publikum aufwecken würde – kein Problem.)

Erst hatte ich gedacht, das Kleid wäre so etwas wie ein Sarong und schluckte kurz, als ich es dann sah. Es war auf eine feierliche Art elegant, edel und wunderbar gearbeitet. Aber auch sachlich. Ich stand still, während ich geschminkt wurde. Dann ging ich auf die Bühne. Der Stoff fühlte sich wunderschön an. Je nach Licht veränderten sich die Sepiatöne. Ein paar Schritte im Scheinwerferlicht und dann wieder zurück hinter die Bühne zu den Freunden. Ich war glücklich.

Als ich aufwachte, hatte ich zum ersten Mal seit langem wieder Lust auf den Tag. Ich stand auf, schloss das Fenster – der Verkehr war mir zu laut –, legte mich wieder hin und versuchte noch zwei Stunden lang vergeblich, zurück in den Traum zu gelangen. DETLEF KUHLBRODT