die taz vor zehn jahren über eine regierungskrise in der türkei:
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Neun Stunden lang haben die türkischen Generäle den Ministerpräsidenten Erbakan zum Schwitzen gebracht. „Untersuchungshaft für die Regierung“ titelt die türkische Tageszeitung Radikal. Die angebliche „Empfehlung“ des nationalen Sicherheitsrates an die Regierung ist in Wirklichkeit eine mehr oder weniger diplomatisch verhüllte Drohung, die parlamentarisch legitimierte islamistisch-konservative Regierung mit Waffengewalt zu stürzen, falls diese sich nicht den Spielregeln des Regimes fügt. Es wäre nicht das erste Mal. 1960 und 1980 haben die Panzer die Regierung gestürzt, 1971 genügte die Drohung, zu putschen, um ein gefälliges Kabinett zu erzwingen.

Ein Kollaborateur des Teufels ist, wer heute hämisch darüber grinst, daß Islamist Erbakan von „säkularen“, „westlich orientierten“ Generälen eins auf den Deckel gekriegt hat. Das militaristische Regime, das selbst den freien Gedanken nicht ertragen kann, ist überhaupt erst der Grund, warum die islamistische Bewegung erstarkte. Der staatliche Apparat hat nach dem Putsch 1980 und in der bis heute andauernden Nach-Putsch-Ära – Wahlen hin, Wahlen her – demokratisch-säkulare, linke Kräfte, die ein starkes Gegengewicht zum politischen Islam bilden, mit Polizei und politischer Justiz mundtot gemacht.

Erbakan erhielt gerade ein Fünftel der Wählerstimmen, und selbst viele Wähler der Wohlfahrtspartei wollen keinen Gottesstaat. Die überwältigende Mehrheit in der Türkei will kein theokratisches System. Hauptsache, man läßt ihnen die Freiräume, sich demokratisch zu organisieren. Es bedarf keiner Panzer, um ein islamistisches Regime in der Türkei zu verhindern. Und erst die Panzer lassen ein islamistisches Regime zur realen Gefahr werden. Es bedarf wohl der Weisheit von Frauen, um das Einfache, das Unmittelbare in der Politik zu begreifen. „Weder Putsch noch Scharia“, riefen demonstrierende Frauen in Ankara.

taz, 3. 3. 1997, Ömer Erzeren