Zwei Bilder, eine Geschichte

OPERNPREMIERE Alvis Hermanis hat für die Staatsoper im Schillertheater Puccinis „Tosca“ inszeniert. Das Stück ist in seiner Fassung genau 114 Jahre alt. Mit Daniel Barenboim als Dirigent klingt die Musik trotzdem wie neu

Bei Hermanis bleibt es beim Nachbild einer Zeit, die nichts weiter als vergangen ist

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Er liebt Bilder, und er liebt die Vergangenheit. Für die diesjährigen Salzburger Festspiele ließ er Verdis „Trovatore“ komplett im Kunstmuseum spielen. Letzten Herbst hatte er Mozarts „Cosi fan tutte“ in die Restaurationswerkstatt für alte Gemälde in Berlin verlegt. Von Beruf ist Alvis Hermanis eigentlich Schauspieler. Mag sein, dass er deswegen als Regisseur lieber Bilder sieht als Dramen, und der Musik am liebsten einfach nur zuhört, seit er auch Opern inszeniert. Er führt nicht Regie. Schauspieler haben unter Regisseuren viel zu leiden, der Schauspieler Hermanis aus Riga möchte keinem Schauspieler zu nahe treten und einem Sänger schon gar nicht.

Was haben sie zu sagen?

Diese Methode geht der Frage aus dem Weg, was uns denn die notorischen Stücke des Opernrepertoires heute noch zu sagen haben. Gar nichts, würde Hermanis wahrscheinlich antworten, wenn man ihn so direkt fragte. Sein spektakulärer Aufstieg zum Regiestar auf beinahe allen großen Bühnen Europas hängt vermutlich damit zusammen, dass diese Frage auch den Intendanten lästig ist. Sie konnten sie ja noch nie richtig überzeugend beantworten, und in Hermanis haben sie einen Mann gefunden, der ihnen zeigt, wie es ohne Erklärung geht.

Für Puccinis Oper „Tosca“, die letzten Freitag im Schillertheater Premiere hatte, war die Lösung verblüffend einfach. Wenn der Vorhang hochgeht, auf dem das mit Rosen verzierte Titelblatt der Originalpartitur zu sehen ist, werden wir mit einem eingeblendeten Text darüber aufgeklärt, dass dieses Stück Ereignisse des Jahres 1800 in Rom schildere. Giacomo Puccini jedoch habe seine Oper 100 Jahre später geschrieben. Was wir, die wir noch einmal 114 Jahre später gekommen sind, danach zu sehen bekommen, sind immer zwei Bilder.

Das erste besteht aus den Kulissen, die überaus penibel die Schauplätze von 1800 nachstellen: das Innere der Kirche Sant’ Andrea della Valle für den ersten Akt, den Amtsraum des Polizeichefs im Palazzo Farnese für den zweiten, die Zinne der Engelsburg für den dritten. Alles in Rom und davor, auf dem platten Boden des Guckkastens, müssen sich Anja Kampe, Fabio Sartori und Michael Volle in Puccinis Splatter-Krimi aus den Napoleonischen Kriegen verbeißen, den bekanntlich niemand überlebt.

Das zweite Bild ist eine Leinwand unter dem Bühnenhimmel, auf der dasselbe Brutaldrama in einer sehr hübsch gezeichneten und kolorierten Folge von Genrebildchen zu sehen ist. Kristine Juriane hat sich große Mühe gegeben, mit ihrer Comic-Version des Librettos so genau den Zeitgeschmack von 1900 zu treffen, dass absolut niemand auf die Idee kommen kann, an Videoclips von heute auch nur zu denken.

Beides ist perfekt gemacht, und beides ist langweilig. Für Mozart hatte Hermanis mit Meisterwerken des Rokoko den Referenzrahmen geschaffen, in dem das Werk zu seiner epochalen Größe aufleben konnte. Hier aber bleibt alles beim bloß nostalgischen Nachbild einer Zeit, die nichts weiter als vergangen ist.

Dass sie gleich zweimal zu sehen ist, stellt die Frage erst recht, was wir heute damit anfangen sollen. Hermanis schweigt und ist dafür am Ende kräftig ausgebuht worden von einem Publikum, das dennoch so begeistert war, dass es schon nach dem „Te deum“ des ersten Aktes zu einem spontanen Beifallssturm hinreißen ließ, der Chor und Ensemble an die Rampe zwang. Daniel Barenboim, so war überall zu lesen, hatte zum ersten Mal in seinem Leben Puccini dirigiert.

Man mag es kaum glauben. Was Hermanis in seine Bilderkammer wegschließt, holt Barenboim zurück mitten in die Gegenwart, ist voller Leben, Spannung und Dramatik. Es geht ständig um Extreme, Extreme der Liebe und des Hasses, übersetzt in eine präzise artikulierte und instrumentierte Musik. Puccini konnte wahrlich große Melodien erfinden, aber er schwelgt nicht darin, kein noch so heftiges Gefühl ist ohne Form. Alles bleibt so klar eingebunden in den logischen Zusammenhang des Ganzen, als habe Barenboim lebenslang nichts anderes als Puccini studiert.

Mit ihm an ihrer Seite waren Anja Kampe und ihre männlichen Quälgeister vielleicht doch ganz froh, dass ihnen niemand dazwischenpfuscht. Sie überzeugen auf jeweils verschiedene, individuelle Weise, weil sie ihre Rollen ganz aus der Musik heraus entwickeln: gebrochen und widersprüchlich Kampes Tosca, tolpatschig und naiv der Maler Cavaradossi des kugelrunden Fabio Sartori, geschäftsmäßig böse der sadistische Polizeichef Scarpia von Michael Volle, der seinem etwas dürftigen Bariton durch überragendes Schauspieltalent auf die Beine hilft.

■ „Tosca“. Nächste Vorstellungen: 6., 12., 16., 19., 22., 25. Oktober