Ethische Selbstgefälligkeit

Moderner Leistungssport ist ohne medizinische Unterstützung undenkbar. Weil Sportärzte ihren Dienst an gesunden Patienten tun, müssen andere Regeln gelten als für die heilende Medizin

VON ANDREAS RÜTTENAUER

Sie sollen Dopingmittel beschafft haben, sie sollen sie den Radfahrern selbst verabreicht haben, sie sollen aktiver Teil eines durchorganisierten Dopingsystems beim Team Telekom der 90er-Jahre gewesen sein. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft Freiburg gegen Lothar Heinrich und Andreas Schmidt, die Ärzte, die gestern von der Teamleitung suspendiert worden sind. Heinrich und Schmidt sind Sportmediziner, Ärzte. Sie gehören einer Berufsgruppe an, die für sich höchste ethische Maßstäbe postuliert. Der hippokratische Eid, den die Ärzte leisten müssen, ist den meisten Patienten bekannt. In ihm wird das medizinische Ethos formuliert, nach dem jeder Arzt verpflichtet ist, sein professionelles Wissen ausschließlich zum Wohle des Patienten einzusetzen. Für Ärzte, die es mit kranken Patienten zu tun haben, mag diese ethische Festlegung genügen. Für Sportmediziner dagegen, die es mit gesunden Klienten zu tun haben, geht diese ethische Selbstverpflichtung nicht weit genug.

Doch nicht selten reagieren Ärzte mit reinen Abwehrreflexen auf derartige Ansinnen. Als 1991 die Deutsche Vereinigung für Sportwissenschaft (DVS) in Oldenburg einen Antidopingbeschluss gefasst und darin unter anderem festgestellt hat, dass die Sportwissenschaft als Mittäter in das Dopingsystem verwickelt ist, indem es „zum einen durch Forschung die Grundlagen für ein dopinggestütztes Training schafft, zum anderen eine effektive dopinggestützte Trainingspraxis nur durch ihre Mitwirkung möglich ist“, regte sich Protest unter den Sportmedizinern. Das lag auch daran, dass der DVS postulierte, dass Sportwissenschaftler verpflichtet seien, ihr Wissen über trainingsunterstützende Maßnahem der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, und zum anderen explizit gefordert wurde, „dass die Sportwissenschaftler ihr Wissen so einsetzen, dass kein anderer durch ihr Handels Schaden nimmt“.

Elk Franke, Professor für Sportpädagogik an der Humboldt-Universität Berlin dokumentiert in seinem Aufsatz „Zur Berufsethik der Sportmedizin“ die Reaktionen zweier „prominenter“ von ihm nicht persönlich genannter Sportmediziner auf den mit großer Mehrheit gefassten Beschluss von Oldenburg. Sie verwehren sich gegen Forderungen an ihr Handeln, die sie in ihrem Selbstverständnis als Ärzte ohnehin erfüllen würden. Darauf, dass sie Teil eines Dopingapparates sein könnten, kommen sie erst gar nicht. Franke bezeichnet dies als „ethische Selbstgefälligkeit“.

An sein Urteil schließt er eine Analyse der Sonderstellung von Sportärzten innerhalb der Medizin an. Während der kranke Patient nicht selten das Risiko scheut, sei der Leistungssportler grundsätzlich risikofreudig. Im Wettkampfsport würden „risikohafte Situationsbewältigungen möglich bzw. notwendig“. Zudem sei der Leistungssportler oft nicht mehr in der Lage, die Methoden und ihre Wirkung in Zusammenhang zu bringen, weil ein langer Karriereaufbau sich oftmals nicht genau nachvollziehen lasse. Daraus, so Franke, ergebe sich eine spezielle Versuchung für die Sportmedizin. Da sie es nur mit gesunden Patienten zu tun hat, kann sie sich dem Experiment widmen, ohne gleichzeitig an einer Heilung arbeiten zu müssen. Dies alles geschehe vor dem Hintergrund eines „unbegrenzten Optimierungswunsch“ des Athleten. Verführerisch für die Sportmedizin ist auch die Messbarkeit ihrer Leistung, die sich aus dem sportlichen Erfolgen der von ihnen betreuten Akteure ergibt.

Für Franke ist klar: Sportmediziner müssen sich ihrer Verantwortung als Forschende in einem Bereich, in dem es meist ausschließlich um das berühmte Schneller-Höher-Weiter geht, stellen. Während in anderen Wissenschaftsbereichen schon lange auch eine Handlungsfolgen-Ethik formuliert wird, beharren viele Sportmediziner auf der traditionellen Trennung von Forschung einerseits und der Anwendung der Ergebnisse andererseits. Mit der ärztlichen Berufsethik allein kann es da nicht getan sein. Dietmar Mieth, Professor für Sozialethik an der Universität Tübungen, fordert in diesem Zusammenhang einen einklagbaren Ethikcode auch für Sportmediziner. Ärzte im Leistungssport sind anders als heilende Mediziner, sie sollten auch anders behandelt werden.