„Ich habe keinen guten Geschmack“

MATERIAL CULTURE Daniel Millers Gespür für die Dinge ist eines für die menschlichen Beziehungen

■ Der Autor: geb. 1954, Anthropologe, forscht zum globalen Konsumverhalten. Professor für Ethnologie am University College in London.

■ Das Buch: „Der Trost der Dinge“ ist letzten Herbst bei Suhrkamp auf Deutsch erschienen (230 Seiten, 15 Euro). Foto: Suhrkamp Verlag

INTERVIEW KATRIN KRUSE

London. Ein kleiner, erstaunlich kühler Raum im Anthropology Department des University College. Der Ausblick ist unspektakulär, besser so: Man ist bei einer Begegnung mit Daniel Miller, der einen neue Perspektiven auf die Konsumgesellschaft lehrt, ohnehin eher auf die Dinge konzentriert. Eine Front Bücherregal, ein Schreibtisch im Arbeitsdurcheinander. An der Innenseite der Tür heftet ein Jeansrock, dessen unterer Teil in goldfarbene Volants übergeht. Auf dem winzigen Besuchertisch liegt ein rot-weiß-schwarzer Läufer in dem, was für gewöhnlich Ethnomuster heißt. Was ist das für einer, der Miller? Weiß man natürlich nicht – will man aber auch gar nicht mutmaßen. Daniel Miller, Professor für Material Culture, arbeitet als ethnologischer Feldforscher. Für sein bei Suhrkamp erschienenes Buch „Der Trost der Dinge“ hat er eine Feldforschung in der eigenen Gesellschaft betrieben und die Bewohner einer Londoner Straße besucht – 17 Monate lang. Miller erzählt ihre Geschichten anhand ihrer Beziehung zu den Dingen – zu Möbeln, Spielzeugen, Küchenutensilien. Das Buch versammelt 15 ungeheuer dicht gesponnene Porträts. Zugleich ist seine Grundannahme, dass sich menschliche Beziehungen gut anhand ihrer Beziehungen zu Dingen beschreiben lassen, eine Provokation für jede Gesellschaftskritik, die im Konsum per se Entfremdung wahrnimmt.

Nach sechs Forschungsarbeiten bin ich zu einer rasanten Generalisierung bereit: Wer gelungene Beziehungen zu Menschen hat, hat sie auch zu Dingen.

Daniel Miller

taz: Mister Miller, erfährt man mehr über die Menschen, wenn man sie mit Ihrer Methode anschaut?Daniel Miller: Ich habe ein Problem mit dieser abstrakten Sache namens Methode. Als Anthropologe will ich Menschen in einer spezifischen Gesellschaft verstehen, und meist unterscheidet sich die grundlegend von meiner eigenen. Meine Arbeit setzt also schlicht zwei Fähigkeiten voraus: Empfindsamkeit und Einfühlungsvermögen. Ich lerne die Leute in einer Feldforschung ja nicht mit Hilfe einer formellen Struktur kennen, durch Interviews oder Fragebögen. Ich gehe eher wie einer vor, der Freundschaften schließt. Die Methode, wenn Sie so wollen, ist Sensitivität: Es gilt, den angemessenen Weg zu finden, jemanden kennen zu lernen. Aber Ihre Form der Annäherung unterscheidet sich sehr von dem, was wir normalerweise tun, wenn wir auf Unbekannte treffen. Erstens: Sie lassen keine schnellen Schlüsse über Ihr Gegenüber zu. Zweitens: Sie nehmen sich ungeheuer viel Zeit. Es scheint, als sei Ihre erste Regel: Vermute nichts! Wahrscheinlich ist es unmöglich, gar nichts zu unterstellen – aber ich bemühe mich, dass mir die eigene Voreingenommenheit nicht die Sicht verstellt. Tatsächlich mag ich Studien, bei denen das Resultat grundlegend von dem abweicht, was ich erwartet habe. Idealerweise lässt man sich vom Material, von den Aussagen und allen Hinweisen so tief durchdringen, dass sie tatsächlich verändern, wie man denkt. Man hört zu, und dabei lernt man: Das ist Feldforschung. Heißt: keine Hypothesen?Ich habe eine einzige Hypothese: Ich kenne das, was ich untersuchen will, überhaupt nicht. Und das stimmt ja auch. Diese Hypothese wird zum Problem, wenn Sie sich für Forschungsgelder bewerben. Dort hat man gern vorweggenommene Resultate. Aber mir gefällt eben schon die Idee nicht, dass es so etwas wie „Millers Methode“ geben könnte, die man beliebig anwenden kann. Ich gehe bei jeder Studie anders vor. Und nicht nur das: Ich verändere mein Vorgehen im Laufe jeder Arbeit. Wer in der Mitte seiner Feldforschung noch dasselbe Vorgehen hat wie anfangs, zeigt nur, dass er über diese Gesellschaft nichts gelernt hat. Spiegelt das vorweggenommene Ergebnis nicht schlicht unsere Alltagswahrnehmung? Das stimmt. Aber immer so offen zu sein, wie ich es während meiner Arbeit bin, wäre ungeheuer schwierig. Ich selbst habe im Alltag wahrscheinlich ebenso viele Vorurteile wie jeder andere auch. Wenn ich arbeite, versuche ich, keine zu haben. Die Konzentration auf die Dinge hilft dabei. Außerdem habe ich noch einen Vorteil: Ich habe einfach keinen guten Geschmack. Das hilft? Bei meiner Arbeit schon. Ich fälle nie Geschmacksurteile in den Häusern anderer – ich könnte es gar nicht. Ich schaue die Dinge einfach an und versuche, sie zu verstehen. Wir halten unsere Dingkultur gern für oberflächlich und entfremdet. Sie schreiben: Das ist sie keineswegs. Warum nicht? Es ist selbstverständlich immer möglich, dass jemand so auf seinen Besitz konzentriert ist, dass er seine Beziehungen zu anderen Menschen vernachlässigt. Das nehmen wir ja meist an, wenn wir uns über die Konsumkultur beschweren – und in der Denktradition in Deutschland von Simmel bis zur Frankfurter Schule gilt genau das als großes Problem. Nach sechs Forschungsarbeiten an Orten wie London bin ich zu einer rasanten Generalisierung bereit: Es scheint mir, dass Menschen entweder gut darin sind, Beziehungen zu haben – oder nicht. Die Leute, die gelungene Beziehungen zu anderen Menschen hatten, konnten auch gelungene Beziehungen zu den Dingen herstellen. Das Problem der Sozialwissenschaftler ist, das sie verallgemeinert sprechen: Alle sind entfremdet. Ich glaube das nicht. Ich sehe die Leute nicht in einem Nebel entfremdeter Fragmentarisierung herumlaufenEine Ihrer Thesen, warum sie das nicht tun, ist folgende: Die Ordnung der Dinge, die diese Leute selbst errichten, stabilisiert sie auch. Ja, weil sie gute Beziehungen aufgebaut haben. Wenn ich Beziehung sage, meine ich die zu Menschen ebenso wie die zu Objekten. Die Dinge vermitteln das Gefühl eines Fundaments. Und sie geben einem vor, wie man sich zu verhalten hat – für gewöhnlich fällt uns das nur nicht auf. Wir denken gemeinhin, die Präsenz der Dinge sein offensichtlich, weil sie ja materiell sind. Tatsächlich aber sind sie oft unsichtbar, gewissermaßen demütig. Meist sind die Dinge einfach da, um die Atmosphäre zu schaffen. Wenn man in ein gemütliches Zuhause kommt, sagt man: Es ist behaglich. Niemand würde hier die geblümte Tapete beschreiben. Die Dinge sind ein Rahmen: Sie sollen das, was um sie herum ist, auch die Menschen inmitten von ihnen, betonen – und nicht die Aufmerksamkeit auf sich selbst ziehen. Entgeht man den gängigen Genres des Über-sich-selber-Redens, wenn man sich jemandem über seine Dinge nähert? Es gibt einen großen Unterschied zwischen der Sprache und den Objekten. Beim Sprechen geht es immer um Legitimation. Man ist sich sehr bewusst, was man sagen sollte: wie man zu sein hat, wie man wirkt. Über Alltagsgegenstände wird aber nicht gesprochen, sie sind einfach eine Ansammlung, Teil einer Praxis. Deswegen mag ich Objekte. Reden allerdings müssen Sie trotzdem über sie. Wie gehen Sie vor? Es stimmt, Leute tendieren zu vorgefertigten Erzählmustern. Sie erzählen Geschichten über sich, immer wieder dieselben Anekdoten. Aber ich stelle ja nicht die Fragen eines Journalisten. Ich frage nach dem Lampenschirm, dem Teppich, dem Beistelltisch. Wann haben Sie diesen Fernseher gekauft, wer war dabei, warum steht er genau hier? Weil das sonst niemand fragt, haben die Leute kein Script dafür. Und vor allem: Es gibt keine richtige Antwort auf die Frage nach dem Teppich. Genau deshalb lassen sich die Leute auf mich ein. Alltagsobjekte haben eine angenehme Neutralität. Sie alarmieren niemanden, sie zwingen niemanden in die Verteidigung. Die Leute reden gern über diese Dinge – weil nicht viel auf dem Spiel steht. Das klingt so, als seien die Dinge ganz unschuldig – und vor allem ganz unbeschrieben. Dabei benutzen wir viele Objekte ganz anders, unter dem Identitätsaspekt. Wir wissen, wie andere sie lesen, und setzen sie deshalb als großes „So einer bin ich“ ein. Kleidung ist hier wahrscheinlich das Offensichtlichste. Aber ich würde unterscheiden zwischen Leuten, die sich sehr bewusst sind, wie sie aussehen, und solchen, die den öffentlichen Raum als entspannte Sphäre begreifen, in der sie sich um ihre Erscheinung nicht kümmern. Für ein Date oder eine Party – das ist etwas anderes. Aber viele wollen sich keine Gedanken darüber machen, wenn sie im Bus sitzen. Schauen Sie sich in der Londoner U-Bahn um: Die meisten tragen absolut uninteressante, eintönige Sachen, die keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Damit drücken sie aus, dass dies für sie eben kein Raum der Darstellung ist. Sie sind einfach da. Wir unterstellen gern Bewusstheit, den Wunsch nach Selbstausdruck, nach Repräsentation des Eigenen. Ihnen geht es dagegen um unser Verhältnis zu den Dingen – aber jenseits der Identitätsversessenheit? Bei Kleidung und den Dingen geht es um weit mehr als um Selbstausdruck. Das ist ein zentraler Punkt in meinem Buch. Die Leute verbringen nicht den Großteil ihrer Zeit ganz bewusst als Individuen, die ihre Individualität ausdrücken wollen. Im Gegenteil. In meinem Buch erscheint es als Versagen, nur ein Individuum zu sein: weil es bedeutet, dass man keine Beziehungen führt. Die Porträtierten wollen Verbundensein, innige Beziehungen zu anderen – und sie sind höchst einverstanden damit, ihre Individualität für etwas zu opfern, das größer ist als sie selbst: Liebe zum Beispiel. Tatsächlich machen Beziehungen, die das Leben bedeutsam machen, für die Befragten den größten Unterschied zwischen Glück und Unglück aus. Die meisten Leute haben nicht das Gefühl, dass sie diese Bedeutsamkeit selber herstellen können. Es muss durch andere Menschen geschehen. Aber eben nicht einfach durch einen, der im Vorübergehen sagt: Das sieht aber gut aus!