Jenseits von Amerika

FREMDE Die Pulitzerpreisträgerin Jhumpa Lahiri ist ein sehr zurückhaltender Literaturstar. Ihr neuer Roman „Das Tiefland“ ist von immenser Suggestionskraft

VON KATHARINA GRANZIN

Amerikanische AutorInnen sind häufig begnadete Medienprofis. Auch Jhumpa Lahiri ist eine amerikanische Autorin. Doch sie ist anders. Kürzlich trat sie im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals in Berlin auf, um ihren neuen Roman „Das Tiefland“ vor Publikum vorzustellen. Interviewmöglichkeiten für Journalisten gab es jedoch nicht – auch zum Bedauern von Lahiris deutschem Verlag. Lahiris britische Agentur lasse wissen, dass die Autorin scheu sei und ohnehin nicht viele Interviews gebe. Ob persönliche Umstände im Vordergrund stehen – wer weiß. Amerikanischen Medien, auch obskureren, stellt Jhumpa Lahiri sich durchaus zum Gespräch. Da wird sie schon auch mal gefragt, warum es eigentlich nicht mehr positive Charaktere in ihren Büchern gebe. Kann ja sein, dass einem das dann irgendwann einfach reicht.

In einem Videointerview für den New Yorker zeigt die Autorin sich als eine Person, die jede Frage sehr ernst nimmt und die ihr berückendes Lächeln vermutlich niemals einsetzen würde, um das Gegenüber mit ihrem guten Aussehen zu blenden. So blitzt dieses Lächeln nur momentweise beim Sprechen auf, gleichsam um Akzente auf das Gesagte zu setzen. Diese Zurückhaltung wirkt derart unamerikanisch, dass es nicht verwundert, wenn dieselbe Person an anderer Stelle (auf salon.com) Dinge sagt wie: „Es ist heute leichter für mich, zu sagen, dass ich Amerikanerin bin. Ich glaube, Amerika hat sich weiterentwickelt und damit auch die Idee dessen, was es bedeutet, amerikanisch zu sein. Aber als ich aufwuchs, war immer klar, dass ich keine Amerikanerin war. Ich wurde ja auch nicht so behandelt. Und ich wurde dazu erzogen, mich auch nicht so zu fühlen.“

Gefühle des Fremdseins in der amerikanischen Gesellschaft sind ein zentrales Thema in Lahiris Schreiben. Seit ihrem zweiten Lebensjahr lebt die Autorin in den USA, geboren wurde sie in London. Ihre Eltern stammen aus Westbengalen. Die große literarische Bühne betrat die damals 33-Jährige mit ihrem Kurzgeschichtenband „Interpreter of Maladies“ (dt. „Melancholie der Ankunft“, 2000), für den sie den Pulitzerpreis bekam. Darauf folgte mit „Der Namensvetter“ der erste Roman, dann nach etlichen Jahren wieder ein hoch gelobter Band mit Short Stories, „Fremde Erde“. Und jetzt mit „Das Tiefland“ der Roman, von dem die Autorin sagt, dies sei das Buch, auf das sie sich all die Jahre innerlich vorbereitet habe.

Verflochtene Schicksale

Die Idee dazu hatte sie bereits vor sehr langer Zeit. Der Roman umspannt eine Zeit von etwa sechzig Jahren, spielt auf zwei Kontinenten, in zwei völlig verschiedenen kulturellen Settings und erzählt aus den sehr unterschiedlichen Perspektiven von Menschen, deren Schicksale eng miteinander verflochten sind, die jedoch nicht miteinander kommunizieren können.

Zwei Brüder stehen im Fokus, die im Kalkutta der fünfziger Jahre aufwachsen. Unweit des Hauses, das die Eltern der Jungen gebaut haben, gibt es eine wasserhaltige, sumpfartige Senke, das „Tiefland“. Das Gegenstück dazu versteckt sich hinter einer hohen Mauer: der Golfclub der Reichen. Auch die beiden Brüder sind, so ähnlich sie sich sehen, extreme Gegenpole. Während Subhash, der Ältere, ein zurückhaltendes, ruhiges Kind ist, das sich an Regeln hält, ist der jüngere Udayan von einem Wagemut, der ihn oft in Gefahr bringt. Als Student radikalisiert sich Udayan im Gefolge der sozialen Unruhen 1967 um das Dorf Naxalbar und schließt sich einer Gruppe militanter Maoisten an.

Subhash lebt schon seit einem Jahr studienhalber in den USA, als ihn die Nachricht vom Tod seines Bruders erreicht. In unmittelbarer Nähe des Elternhauses wurde Udayan von Polizisten erschossen. Subhash kehrt nach Kalkutta zurück, heiratet Udayans Witwe und nimmt die junge Frau mit nach New Hampshire. Hier kommt ein Mädchen zur Welt, Bela. Dass sie die Tochter von Udayan ist, wird sie erst als Erwachsene erfahren. Subhash ist ihr eigentlicher Vater, liebt sie und zieht sie auf – und irgendwann tut er das ganz allein, denn Gauri, die Frau seines Bruders, die er geheiratet hat, verlässt die Familie und macht in Kalifornien Karriere als Professorin für Philosophie, während die Tochter Bela erwachsen wird und, ähnlich wie ihr leiblicher Vater, einen starken Drang in sich trägt, die Welt zu verbessern. Doch während Udayan ein gewaltbereiter Kämpfer für die Rechte ausgebeuteter indischer Kleinbauern war, zieht seine Tochter friedlich durch die USA und engagiert sich für eine ökologische Landwirtschaft.

Der Roman ist konsequent multiperspektivisch erzählt. Subhash, Gauri, Bela, aller Sichtweisen auf die Welt kommen zu ihrem Recht; und sogar die Mutter von Subhash und Udayan, die zunächst, in der Außenperspektive ihres älteres Sohnes, so herzlos erscheint, erfährt in einem späteren Kapitel das Recht auf eine Innenperspektive. Die große Lahiri-Kunst besteht darin, all diese verschiedenen Personen sehr, sehr nah heranzubringen, fast in sie hineinzukriechen beim Schreiben, sodass man sie auch beim Lesen sehr, sehr gut kennenlernt. Doch bleibt stets ein unergründlicher Rest an Rätselhaftigkeit.

Das weitaus größte Rätsel ist Gauri, deren intellektuelle Ambitionen und deren Unzufriedenheit mit der Rolle als Hausfrau und Mutter nur eine Teilerklärung für die radikale Handlung sind, mit der sie das künstliche Kleinfamilienidyll gewaltsam zerstört. Und auch wenn am Schluss Gauris verdrängte Traumata in kunstvoll erzählter Erinnerungsarbeit doch noch zutage gefördert werden, so scheint allenfalls eine Ahnung der komplexen unbewussten Prozesse auf, die dabei ablaufen.

Obwohl in „Das Tiefland“ politische und kulturelle Umstände eine stark schicksalsbestimmende Rolle spielen, beziehen sich die Gefühle der Entfremdung weniger auf den kulturellen Hintergrund, in dem die Personen leben, als auf ihre Beziehungen untereinander. Auch diese Menschen bräuchten einen „Interpreter of Maladies“, eine dolmetschende Instanz, die ihre seelischen Versehrtheiten entschlüsseln könnte. Der noch kleine Udayan, so wird es zu Beginn des Romans in einem eindrücklichen Bild gefasst, hinterlässt aus Unvorsicht seine Fußabdrücke im frischgegossenen Zement des Innenhofs. Genau wie diese Fußspuren Jahrzehnte später noch zu sehen sind, so sind auch die Spuren seiner späteren Taten nie mehr zu tilgen.

Schuldgefühle, Wünsche

Wie Lahiri dieses im Subtext des Lebens liegende, über die Zeit weiter gewachsene Dickicht von uneingestandenen Schuldgefühlen und unerfüllten Wünschen zu einer Erzählung von immenser Suggestionskraft und tiefer psychologischer Einsicht verwebt, ist schlicht fantastische, große Erzählkunst.

Und natürlich ist es Unsinn, immer mit Autoren über ihre Arbeit reden zu wollen. Was sollte im Interview schon an Einsichten fallen, die man nicht viel besser aus der Romanlektüre ziehen könnte? Das bei Weitem interessanteste Interview gab Jhumpa Lahiri übrigens der Vogue. Dort geht es darum, dass sie derzeit mit ihrer Familie in Italien lebt. Und zwar nicht etwa deshalb, weil ihr Mann Italiener ist, sondern weil sie dringend wegwollte aus dem allzu vertrauten Brooklyn. Am Leben in Rom, so erklärt sie, schätze sie vor allem das Gefühl des absoluten Fremdseins. Es sei so entspannend. Bemerkenswert dabei ist unter anderem, dass sie derweil begonnen hat, auf Italienisch zu schreiben.

Jhumpa Lahiri: „Das Tiefland“. Aus dem Englischen von Gertraude Krüger. Rowohlt, Reinbek 2014, 528 S., 22,95 Euro