Ich war dann lieber mal weg

MEMOIREN Die Straßenschlachten verpasst oder verschlafen, aber eine Pappschachtel gefunden: Hans Magnus Enzensberger befragt sein früheres Ich und erinnert sich in „Tumult“ an die späten sechziger Jahre

Memoiren werden häufig in einer Zeit verfasst, in der Autoren ihren Zenit überschritten haben. Der Rückblick auf das Leben wird dann in der Regel zu einer Schau, in der man verständlicherweise möglichst gut dastehen möchte, weshalb dieses Genre in literarischer Hinsicht eher belächelt wird.

Memoiren sind also eine durchaus heikle Angelegenheit, selbst für einen so souveränen Schriftsteller wie den bald 85-jährigen Hans Magnus Enzensberger. Er ist sich der Fallen und Probleme einer Autobiografie bewusst. Traut man nämlich nicht der rudimentären Erinnerung, die einem zur Verfügung steht, oder hat man wie Enzensberger sowieso einen Widerwillen, sich alles wieder ins Gedächtnis zu rufen oder in den Autobiografien der Zeitgenossen zu blättern, und weiß zudem, wie wenig Verlass auf Zeugenaussagen ist, dann sind das gute Argumente, um lieber keine Autobiografie zu verfassen. Enzensberger möchte sich nur ungern auf unsicheres Terrain begeben, das „von der bewussten Lüge bis zur stillschweigenden Verbesserung, vom schlichten Irrtum bis zur raffinierten Selbstinszenierung“ reicht und wo „die Übergänge schwer zu markieren“ sind.

Dass sich Enzensberger dennoch darauf eingelassen hat, zumindest über die sechziger Jahre zu schreiben, den Zeitabschnitt seines Lebens, in dem der „Tumult“ am größten war, hat mit einem zufälligen Fund in seinem Keller zu tun, als er eine vergessene Pappschachtel mit Briefen, Notizbüchern, Fotos, Zeitungsausschnitten und Manuskripten entdeckte. Enzensberger musste sich also nicht auf sein eigenes oder ein fremdes Gedächtnis verlassen. Er hatte jetzt einen Menschen vor sich, der ihm allerdings völlig fremd war: sein früheres Ich. „Dieses Ich war ein anderer“, paraphrasiert er Rimbaud.

Um die Fremdheit zu überwinden, tritt er mit dem anderen in einen Dialog, er befragt ihn, er fühlt ihm auf den Zahn und streitet mit ihm. Der andere stellt von Anfang an klar: „Ich habe das meiste vergessen und das Wichtigste nicht verstanden.“ Das ist vielleicht ein wenig Koketterie, aber die Absicht Enzensbergers wird deutlich: Man darf die ganze Sache nicht so ernst nehmen. „Das einzige, was mich interessierte, waren seine Antworten auf die Frage: Mein Liebster, was hast du dir bei alledem gedacht?“

Was den späten Enzensberger interessiert, erfährt man von dem jungen nicht immer, aber es ist auch nicht das entscheidende Motiv, denn selbstverständlich ist das Ganze nur ein Spiel mit der unzuverlässigen Erinnerung, aber das ist höchst spannend. Obwohl Enzensberger in den Zeiten des Tumults mittendrin war, hat er doch immer wieder die „Straßenschlachten verpasst oder verschlafen“. Nur einmal hielt er eine Rede auf einer Großkundgebung gegen die Notstandsgesetze vor 25.000 Leuten und bemerkte, wie er auf dem besten Wege war, sich „in einen Demagogen zu verwandeln“.

Vielleicht löste das in ihm den Reflex aus, immer lieber woanders zu sein. Fast das gesamte Buch nämlich erzählt von seiner unbändigen Reiselust. Nach Russland, wo er seine zweite Frau Mascha kennenlernt, in die USA, nach London, nach Italien, Norwegen, San Francisco, nach Südaustralien und Französisch-Polynesien und vor allem immer wieder nach Kuba. Und das waren noch lange nicht alle Stationen. Man gewinnt den Eindruck, als ob Enzensberger auf der ständigen Flucht vor sich selbst gewesen sei. Es gefiel ihm auch, „ohne Adresse zu verschwinden. Unterwegs zu sein wie ein Defraudant“.

Die nomadische Unruhe bewahrte ihn vor dem Schicksal vieler Zeitgenossen, die häufig in einer Ideologie Halt suchten und ihren offenen Blick auf die Welt verloren. Den hat sich Enzensberger immer bewahrt, er hat nie verbissen an einer Idée fixe festgehalten. Das ist ihm gelungen, weil er mitten im Tumult immer wieder eine „andere Welt“ betrat, vergessene Winkel der Erde, Zufluchtsorte von Juden, konspirative Hinterzimmer in Barcelona, Mansarden in Ménilmontant, verstaubte Archive in Amsterdam. Er bewegte sich abseits vom Zentrum, auf das alle Leute starrten. Dennoch wurde er zu einer Art Autorität. Es hat ihn nie interessiert. Und das macht ihn und seine „Erinnerungen“ so einzigartig. KLAUS BITTERMANN

Hans Magnus Enzensberger: „Tumult“. Suhrkamp, Berlin 2014, 285 Seiten, 21,95 Euro