Kieselsteine im See

Meine Großeltern gab es nur als Schwarzweißfoto in einem Schuhkarton. Bis ich eines Abends ihre Namen googelte

VON JACKIE KOHNSTAMM

Ich wuchs mit nur einer Großmutter auf, der Mutter meines Vaters. Sie war für gewöhnlich schwarz gekleidet und verließ nur selten ihr dunkles Pensionszimmer, und ich erinnere mich, wie unwillig ich mich die Stufen hinaufschleppte, um sie zu besuchen. Über meinen Großvater Jakob, nach dem ich benannt bin, wurde nie gesprochen. Ich kann mich auch an kein Foto auf dem Schreibtisch erinnern. Nur eine Sache wusste ich über ihn: wie er starb. Es war noch kein Jahr her, dass er Nazi-Deutschland entkommen war, da wurde London bombardiert. Mein Großvater erlitt einen Schlaganfall und starb. Doch was mit den Eltern meiner Mutter geschehen war, blieb weiter unklar.

Über Jahre schlich ich auf Zehenspitzen um das Thema herum, ohne zu wissen, worum ich schlich. Meine Familie wurde zu Experten im Beschützen: Mein Vater beschützte meine Mutter, ich beschützte meine Mutter, meine Mutter brauchte alle Energie, um sich selbst zu beschützen. Aber wovor? Was war so gefährlich an der Frage, die ich nicht zu stellen wagte?

Meine Mutter wurde in Berlin geboren. Sie war das jüngste von drei Kindern, das einzige, das noch zu Hause geblieben war, nachdem Hitler an die Macht gekommen war. Nach langen Diskussionen erlaubten ihre Eltern ihr 1936, mit einem Hausgehilfinnen-Visum nach London auszureisen. Die Familie von damals, eine schwarzweiße Großfamilie, die in einem Schuhkarton im Wohnzimmerschrank lebte, unterschied sich deutlich von der heutigen, die überall in der Welt verstreut ist: eine Schwester in New York, ein Bruder in Tel Aviv, Cousins in Brüssel, Buenos Aires, Los Angeles und Lima.

Oft kniete ich auf dem Teppich, öffnete den Karton und breitete Großonkels, Großtanten und Cousinen um mich herum auf dem Boden aus. Die Eltern meiner Mutter, Max und Amalie (Mally) Rychwalski, sahen aus, wie Großeltern aussehen müssen. Sie mollig und knuddelig, er faltig und bärtig. Nachts im Bett wünschte ich mir, sie würden ihren Schuhkarton verlassen und mich besuchen. Ich stellte mir vor, wie sie hereinschauten, kleine Unordnungen erschnüffelten und sich vergewissern würden, dass es mir gutging.

Einmal zeigten sie im Fernsehen Bilder übereinandergestapelter Leichen. Meine Mutter ging schon beim ersten Aufflackern hinaus, um nach ihrem Apfelkuchen zu sehen, und mein Vater schaltete das Gerät aus. „Wir wollen das nicht sehen.“ Aber ich wollte doch und fühlte mich schuldig mit meinem Wusch, der mir ebenso obszön erschien wie die Bilder auf dem Bildschirm. Ich begann, Vermutungen über Zusammenhänge mit Max und Mally anzustellen, wies sie aber schnell wieder von mir. Sicher nicht. Bitte, nicht das. Als ich es nicht länger aushalten konnte, stellte ich meinem Vater die gefährliche Frage. „Was ist mit den Eltern meiner Mutter geschehen?“ Er erzählte mir, dass sie, wie die meisten aus der Schuhkarton-Familie, in Deutschland geblieben und eventuell deportiert worden seien. „Kein schlimmes Lager“, versuchte mir meine Mutter zu versichern, „in Theresienstadt wurden die Menschen nicht umgebracht“. – „Aber was geschah dann mit ihnen?“ Die Frage war heraus, bevor ich sie aufhalten konnte. „Sie hatten nichts zu essen. Sie sind verhungert.“ Ich versuchte, meiner Mutter zu glauben, dass Verhungern besser sei – ihretwegen. Aber schon mit elf hatte ich da so meine Zweifel.

Für weitere zwei Jahrzehnte wurde wenig über das Thema gesprochen. Dann, eines Tages in den 1980ern, als meine Tante aus New York zu Besuch war, stellte sie mir zwei Plastiktaschen vor die Füße. „Ich habe Großputz gemacht. Du bist der Familienarchivar. Bitte schön.“ Fotos. 1939 aus Deutschland geschmuggelter Schmuck. Nichtjüdischen Freunden am Vorabend der Deportation anvertraute Papiere, Abschiedsbriefe an die Kinder. Gelbe Smileys auf den Tragetaschen wünschten mir Have a nice day.

Als ein paar Jahre später mein Onkel in Tel Aviv starb, war es wieder am Familienarchivar, durch noch mehr vergilbtes Papier zu waten. Nur die antisemitische Propaganda war ordentlich in ein Album geklebt worden, der Rest war ein Durcheinander: eine Impfurkunde von 1905, deutsche Schulzeugnisse, die Inventarliste des von Hamburg nach Haifa geschifften Besitzes und stapelweise Briefe aus Berlin. Ich starrte auf die enge, schwarze Handschrift meines Großvaters und auf die lichtere und lockerere, krakelige Schrift meiner Großmutter. Die Buchstaben waren in Sütterlin geschrieben, und ich konnte oft nur die Daten entziffern, viele sind nach der Reichspogromnacht geschrieben worden. Meine Großeltern versuchten schließlich doch noch, auszureisen, aber die Ereignisse überrollten sie. Der Kriegsausbruch und die Strenge der britischen Zensur schoben jeder weiteren Korrespondenz einen Riegel vor. Ich brachte die Ordner mit nach London, aber meine Mutter wollte sie nicht anschauen. Also stellte ich die Taschen meines Onkels zu denen meiner Tante in den Schrank und schloss die Tür. Von Zeit zu Zeit lüftete ich sie und überlegte, was zu tun sei. Es fühlte sich an wie ein schweres, einsames Erbe.

An einem Winterabend googelte ich den Geburtsnamen meiner Mutter. Zu meiner Überraschung fand ich meine Großeltern, mit ihrer Adresse in Berlin. Der Schriftzug „Stolpersteine“ erschien auf dem Bildschirm und: „Hier lebte Max, hier lebte Amalie Rychwalski.“ Ich stürzte zum Schrank, um die Geburtsdaten, die Daten der Deportation nach Theresienstadt und die Todesdaten abzugleichen. Alles stimmte. Aber ich bin ihre einzige lebende Nachfahrin – wer hatte sich um ihr Andenken gekümmert? Dann sah ich das Datum, an dem die Steine gelegt worden waren: 30. November 2005. Heute war der 4. Dezember – nur vier Tage später!

Im Januar 2006 stand ich zwischen gefrorenen Schneeklumpen vor einem imposanten Wohnblock in der Berliner Bleibtreustraße. Hier hatten also meine Großeltern gelebt. Ihre Stolpersteine sahen aus wie zwei kleine Fußspuren im Eis. Ein junger Mann schloss die Tür zum Haus auf. „Darf ich einen Moment hereinkommen?“, fragte ich. Er und sein Partner luden mich zum Tee und zu einer Fahrt mit dem Aufzug ein – mit dem Original, meine Großeltern sind damit hoch- und runtergefahren. Ich war gerührt von dem herzlichen Empfang und überrascht von der Haltung der beiden, aus der der Wunsch sprach, die dunkle Vergangenheit ihrer Geschichte nicht zu verleugnen.

Mein Großvater Max war ein Freimaurer, und ich erfuhr, dass seiner und Mallys Steine zwei unter vielen waren, die Wolfgang Knoll – jetzt Projektkoordinator in Wilmersdorf-Charlottenburg – aus dem Wunsch heraus finanziert hatte, die jüdischen Mitglieder seiner Loge zu ehren. Knoll zeigte mir Berlin: Sigmundshof 22, wo meine Mutter geboren ist; Kurfürstendamm 96, wo sie aufgewachsen ist; das Freimaurergebäude in der Emser Straße; die Littenstraße, wo die Krawattenfabrik der Familie gestanden hatte. Ich begann, die Familie meiner Mutter einzuordnen, die Tour gab mir ein Gefühl des Raumes, in dem sie sich bewegt hatten.

Ich verstand, dass ich nicht die Einzige war, die in Jahrzehnten der Stille aufwachsen musste; auch viele Deutsche mussten das. Wie viel haben unsere Eltern und Großeltern über den Horror jener Zeit gewusst? Diese Frage ist eine No-go-Area für uns alle gewesen. Uns allen fehlte ein Stück im Puzzle unserer Vergangenheit.

Viele haben sich dem Stolperstein-Projekt angeschlossen. Es ist wie ein Kieselstein, der in einen See geworfen wird, sagen die Organisatoren, die Ringe auf der Wasseroberfläche werden immer größer. Doch nicht alle Reaktionen sind positiv. Für die Juden sei genug getan worden, sagte eine Frau und zog ihre Haustür zu. Einmal wurden zwei neue Steine von Neonazis gestohlen, die ihren Triumph anschließend auf ihre Website stellten. Auch Juden reagieren nicht immer begeistert. Manche sehen es als Entweihung, auf den kleinen Denkmälern herumzulaufen, andere fürchten, dass Hunde diese beschmutzen könnten. Ich für meinen Teil denke, dass das Schlimmste, was meinen Großeltern passieren konnte, vor Jahrzehnten geschehen ist. Lasst ihre Stolpersteine ignoriert, beschmutzt oder entwendet werden, solange nur ab und zu ein Vorübergehender bei ihnen stehenbleibt und anfängt, nachzudenken.

Gunter Demnigs künstlerische Leistung hat völlig unbekannte Menschen dazu gebracht, das Leben meiner Großeltern wahrzunehmen. Und er hat die Tür zu meinem Schrank aufgeschlossen. Ein Jahr ist vergangen seit meinem ersten Besuch. Weitere Reisen haben mich durch eine Reihe von öffentlichen Abteilungen und Archiven geführt, bis ich ein Bild des Lebens meiner Großeltern hatte. So möchte ich Max und Mally sehen, als Menschen, nicht als Namen und Nummern auf einer Deportationsliste und als furchtbare Abwesenheit in meinem Leben.

Und das fängt gerade an, zu geschehen. Ich erkenne jetzt die Handschrift meines Großvaters auf den ersten Blick, die schwungvollen Schnörkel, als er sein Geschäft mitgründete und Mally heiratete; die feste Hand seiner mittleren Jahre, gesichert in der Gemeinschaft, ein Mitglied der Loge; schließlich und schrecklich, die enge Signatur eines ängstlichen alten Mannes, der gezwungen wird, „Israel“ zu seinem Namen hinzuzufügen.

Die öffentlichen Dokumente liefern einen Rahmen für die Briefe von Max und Mally an meinen Onkel, die mir so lange verschlossen geblieben waren. Mit viel Hilfe habe ich nun gelernt, die Handschriften selbst zu entziffern. Die frühen Briefe erzählen liebevoll-ironisch vom Familienleben. Die späteren befassen sich mit dem vereitelten Versuch, nach Palästina auszuwandern. Neben Banalitäten und verschlüsselten Hinweisen auf die Aktivitäten der Nazis findet sich in diesen Briefen eine immer mitschwingende Verwirrung, eine Angst, aber auch ein hartnäckiger Wille, den Alltag weiterzuleben.

Der letzte Brief ist der einzige, den ich an meine Mutter adressiert fand und in dem mein Großvater ihr zum Geburtstag gratuliert. Das Datum des Briefs ist der 9. April 1940, somit ist er in weiser Voraussicht lange vor dem Geburtstag, dem 27. Mai, abgeschickt worden. Das war damals wohl notwendig. Der Krieg mit England war sieben Monate alt, Telefonate und Korrespondenzen zwischen den beiden Ländern wurden unmöglich. Dieser Brief machte seine Reise von Berlin nach London via Los Angeles, wohin Cousine Ursel emigriert war.

Wegen seines resignierten und endgültigen Tons ist er eines der traurigsten Dokumente meiner Sammlung. „Die Hoffnung, diesen Tag wieder einmal gemeinsam zu begehen, wollen wir trotz allem nicht aufgeben. Bis dahin möge Dich der Himmel beschützen, wie er es bis jetzt getan, und Dir eine glückliche Zukunft schenken.“

Übersetzung: Lotte Everts

JACKIE KOHNSTAMM lebt als Autorin und Lehrerin in London