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: Kabinett der Grausamkeiten

Cornelia Reichhelm: „Doping-Kinder des Kalten Krieges“. LIT-Verlag, 312 Seiten, 24,90 Euro

Es ist eine monströse Aufgabe, der sich die einstige Ruderin Cornelia Reichhelm gestellt hat. Psychisch und physisch. Die letzten 13 Jahre ihres Lebens, schreibt sie der taz, habe sie recherchiert. Gut 13 Jahren ist es auch her, als sie von den Ärzten wegen ihrer höllischen Rückenschmerzen für arbeitsunfähig erklärt wurde. Die Folge einer Missbrauchsgeschichte, die sie in ihrem Buch „Doping-Kinder des Kalten Krieges“ auf knapp 300 Seiten sehr sorgfältig dokumentiert hat.

Ohne ihr Wissen wurde ihr Körper bereits im Alter von 13 Jahren unter der Obhut des staatlichen DDR-Sportregimes zum Experimentierobjekt. Wissentlich haben die staatlich beauftragten Dopingforscher dabei schwere Folgeschäden in Kauf genommen. Heute kann die 51-Jährige ihren Kopf nur um Millimeter drehen. Ein medizinischer Gutachter attestiert ihr eine „schwer degenerativ veränderte Wirbelsäule“ aufgrund der physiologischen Überbelastung in ihren Jugendjahren, der sie nur ausgesetzt werden konnte, weil sie Dopingmittel einnahm.

Der staatlich verordnete Missbrauch ihres Körpers offenbarte sich ihr erst in den letzten Jahren. Nachdem immer mehr Details zum Staatsdoping der DDR ans Licht kamen und es ihr stets schlechter ging, fing sie an zu recherchieren. Im Jahre 2007 stellte sie einen Forschungsantrag bei der damaligen Birthler-Behörde zur Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen. Sie forschte also in eigener Sache. Motiviert vor allem dadurch, wie sie schreibt, dass die Täter die gesundheitlichen Folgen von Doping heute noch verleugnen und nach der Wende beim Deutschen Olympischen Sportbund unbehelligt wieder ihre Anstellung fanden.

Es ist ein Kabinett an Grausamkeiten, das sich dem Leser hier eröffnet. Zum einen wissenschaftlich aufbereitet mit einem Fußnotenapparat und kleinem Quellenanhang, zum anderen durchwirkt von der emotionalen Erschütterung Cornelia Reichhelms. In Fettschrift hebt sie etwa ihre Gedanken im so bitteren Moment der Enthüllung hervor: „Ich war für diese Verbrecher nur ein Versuchskaninchen, eine Labormaus und ein Rudersklave!“

Trotz bester Resultate bei den DDR-Meisterschaften durfte Reichhelm, die mit der Monatspille zugleich auch Testosteron verabreicht bekam, nie zur Junioren-WM mitfahren – das Risiko, dass die Dauergedopte aufgeflogen wäre, war zu hoch. Der Raubbau an ihrem Körper wurde nicht für deren Medaillenambitionen, sondern für wissenschaftliche Erkenntnisse betrieben, die anderen einmal zugute kommen sollten. Deshalb verschwieg man ihr auch einen Bandscheibenvorfall und ließ sie weitertrainieren. Dass die um die großen Erfolge gebrachte Reichhelm vorzeitig aufhörte, wusste man zu verhindern. Die Drohung, ihr das Berufsleben schwer zu machen, wirkte.

Das alles ist ein Stück Gesellschaftsgeschichte, könnte der flüchtige Leser meinen, erzählt Reichhelm doch auch ausführlich von ihrem Studenten- und Berufsleben. Zudem ist ihr Buch im kleinen LIT-Fachverlag in der Reihe „Studien zur DDR-Gesellschaft“ erschienen und bislang kaum wahrgenommen worden. Dabei ist Reichhelms Geschichte nach wie vor von aktueller Brisanz und somit leider völlig unterverkauft.

Dieses Buch rührt an der sportpolitisch bedeutsamen Frage der Verantwortung. Denn die DDR-Dopingopfer werden von der deutschen Bundesregierung und dem Deutschen Olympischen Sportbund bis heute mit den Folgeproblemen der einst staatlich verordneten Manipulation nahezu allein gelassen. Die Bundesregierung zahlte lediglich einem ausgewählten Kreis von Dopingopfern eine einmalige Entschädigungssumme von 10.000 Euro aus. Die arbeitsunfähige Reichhelm erhält derzeit nicht einmal den Hartz-IV-Satz, weil sie erst ihre Altersvorsorge aufbrauchen soll. Seit 2009 kämpft sie vorm Magdeburger Sozialgericht um eine Dopingopferrente. Der Prozess befindet sich in der Warteschleife.

Deutlich mehr Geld wurde indes aus dem für Sport zuständigen Bundesinnenministerium den ehemals mit Doping befassten DDR-Trainern überwiesen, weil man im vereinten Deutschland auf ihr Wissen nicht verzichten wollte. Reichhelm nennt das in ihrem Buch „Täterschutz“. Den Opfern fehlt es oft an einer Lobby. Umso wichtiger ist es, dass deren Leidensberichte möglichst viele zur Kenntnis nehmen, zumal es nur wenige derartige Zeugnisse gibt. Ein offener und konfrontativer Umgang mit der eigenen Geschichte ist so schwer wie selten. Insofern ist Reichhelms Buch auch ein wichtiger beispielgebender Akt der Emanzipation. JOHANNES KOPP