Apfelwein und Augendiagnose

SOMMERFEST Das „Kunstquartier Bethanien“ am Kreuzberger Mariannenplatz lockte am Samstag viele Besucher an und machte auf seine vielfältigen künstlerischen, sozialen und nachbarschaftlichen Aktivitäten aufmerksam

Zwischen Geschichte, Kunst- und sozialem Projekt: Im Bethanien ist Kreuzberg am angenehmsten

VON DETLEF KUHLBRODT

Eigentlich sollte ich ja nur ganz entspannt auf das Sommerfest im Bethanien gehen. Dann kam ich mir aber plötzlich vor wie in der Schule. Oje. Wie war das noch mal? Man kennt es so lange und weiß doch nicht viel. Halbwissen rules! Das Bethanien heißt nun also nicht mehr Künstlerhaus Bethanien, sondern „Kunstquartier Bethanien“. Rio Reiser hatte diesen Song geschrieben, den man als Teenager ganz toll gefunden hatte, der Tausende, wenn nicht Abertausende nach Berlin gelockt hatte und den man nun überhaupt nicht mehr hören mag. Theodor Fontane hatte ein Jahr hier als Apotheker gewirkt.

Bis 1970 war das Bethanien ein Krankenhaus. Bürgerinitiativen verhinderten den geplanten Abriss. Der Gebäudekomplex wurde unter Denkmalschutz gestellt. Am 8. Dezember 1971, vier Tage nachdem der junge Anarchist und Haschrebell Georg von Rauch von der Polizei erschossen worden war, war dann ein Nebengebäude auf dem Gelände des Bethanien, das ehemalige Schwesternwohnheim des Hauses, besetzt und in Georg von Rauch-Haus umbenannt worden. Besetzer und Senat hatten sich darauf geeinigt, das Haus als Jugendwohnprojekt zu nutzen.

„Rauch-Haus-Song“

Am 19. April 1972 gab es eine Razzia in diesem Haus. Von diesem Ereignis singt die Band Ton Steine Scherben in ihrem oben erwähnten, im gleichen Jahr veröffentlichten „Rauch-Haus-Song“, der immer noch gerne auf Demos gespielt wird. 1973 wurde im Hauptgebäude des Bethanien das „Künstlerhaus Bethanien“ errichtet. Im Juni 2005 wurde der Südflügel des Bethanien von Unterstützern und Bewohner des gerade geräumten Hausprojektes „Yorck59“ besetzt und in „NewYorck59“ umbenannt. Christoph Tannert, seit 2000 Geschäftsführer der Künstlerhaus Bethanien GmbH, war nicht amüsiert. Es gab Auseinandersetzungen und böse Worte. Durch die Besetzung und ein erfolgreiches Bürgerbegehren konnte der Verkauf des Bethanien an einen Privatinvestor verhindert werden. 2010 zog das Künstlerhaus Bethanien mit seinem internationalen Atelierprogramm in einen 10.000 qm großen Gebäudekomplex in der Kottbusser Straße, den Nicolas Berggruen 2008 erworben und saniert hatte. Lottogelder halfen dabei. Uff!

Das Bethanien, in dem am Samstag bis tief in die Nacht ein Sommerfest gefeiert wurde, besteht nicht nur aus Kunst. Es gibt noch eine Musikschule, eine Druckwerkstatt, das Restaurantcafé „Drei Schwestern“, Theatersachen und eine selbstverwaltete Heilpraktikerschule. Diese Heilpraktikerschule bot während des Sommerfestes nicht nur Massagen, sondern auch eine Augendiagnose an. Weil meine Augen nicht mehr so gut sind, wollte ich da unbedingt hin. Aus dem gleichen Grund vermutlich hatte ich sie erst am Abend gefunden, als nicht mehr diagnostiziert wurde. Die Leute am Stand waren aber sehr nett.

Überhaupt war das Sommerfest sehr gelungen und gut besucht. Schon am Vormittag waren zwanzig Europaparlamentarier der Grünen vorbeigekommen, um sich von Stéphane Bauer vom Kunstraum Kreuzberg alles zeigen und erklären zu lassen. Später schaute auch Christian Ströbele vorbei. An seinem Jackett klebte noch ein „Atomkraft Nein Danke“-Aufkleber.

Eingedenk des Ton-Steine-Scherben-Gassenhauers trugen drei Polizisten blaue Uniformen, sahen aber nett aus. Die Augen grüner Eltern leuchteten immer noch, weil ihre Kinder so schön in dem Musikstück „Der Steinhauer“ musiziert hatten. Im schönen Garten des Bethanien gab es Loungemusik von der Bühne. Ich bestellte Apfelwein und Nacken und bekam „Apfelschweinnacken“ mit selbst gemachtem Ketchup.

Riesen in weißen Kostümen stolzierten durch die Kreuzberger Menge. Man dachte gleich „öeah“, doch die Kinder waren begeistert. Andere gestalteten ihre Skateboards selber, da und dort gab es Kunst, ein Raum mit großformatigen Fotos hieß „die Stadt am Morgen“ und war recht schön. Ich verlief mich in dem riesigen Gebäudekomplex und landete irgendwann wieder draußen in einem Wagendorf. Am Eingang des Dorfs war ein Plakat aufgespannt. Darauf stand: „Sauber stinkt“ – „Teuer ooch“. Das passte gut als Entgegnung auf diese „Je sauberer du bist – desto schmutziger wird’s“-Deowerbung, die mich nervt.

Auf einer Bühne gab es Punkmusik, einige Meter weiter einen Bürgergarten. Es war sehr friedlich. Ich setzte mich auf eine Bank. Ein paar Frauen mit Kopftüchern tranken Tee, Gärtner gärtnerten; die Blätter mancher Pflanzen sahen flauschig aus. Es war superangenehm, hier in der Abendsonne zu sitzen.

Dann ging ich wieder.

Tolle Widersprüche

Da und dort kamen Gespräche vorbei. Das Tolle am Bethanien ist, dass es diese ganzen Widersprüche aushält zwischen Geschichte, Kunst- und sozialen Projekten, dass es alles zusammen ist und draußen vor dem „Drei Schwestern“ ist es einer der schönsten, angenehmsten Orte Kreuzbergs. Die hellblauen Tische zum Beispiel, die Sonnenschirme ohne Reklameunterbrechung, der Kies, die Bäume und wie das Bier dann so leuchtet. Wie schön auch, dass es noch kein touristischer Hotspot ist.