Mut, Mitleid und ein Glas Marmelade
: Mein Lebensentwurf soll sein wie ein Rhabarbergarten

VON MARGARETE STOKOWSKI

AUSGEHEN UND RUMSTEHEN

In Kreuzberg kann man rumlaufen, wie man will. Man kann hässliche Klamotten und fettige Haare haben, seinem Hund das Gesicht von Angela Merkel auf den Rücken tätowieren und ein Piercing tragen, das vom linken Nasenflügel zur rechten Arschbacke geht. Egal.

Aber wenn man am Freitagnachmittag mit einer Kiste Rhabarber läuft, wird man begafft wie der Papst in Strapsen. Solange ich noch auf dem Markt am Maybachufer bin, ist es okay. Hier gelten andere Regeln. Spargel essen, Stress vergessen! Melone, Melone, keiner kann ohne! Doch gleich hinterm Kottbusser Damm geht es los. „Mama, was hat die Frau in der Kiste?“ – „Regenwaldroden ist verboten!“ Geschätzte 147 Mal werde ich angequatscht und 129 Mal erkläre ich, dass ich Marmelade kochen will. So beginnt mein Wochenende.

Es ist eines der Dinge, die ich am meisten hasse: sich rechtfertigen müssen. Das mit dem Rhabarber, na ja. Viel mehr nervt die Frau, die ich später auf einer Party treffe. Sie fragt in diesem spezifisch verächtlichen Ton, ob ich eigentlich immer noch studiere. Ja, sage ich, es macht Spaß und ich hab daneben zwei schöne Jobs, und Rom wurde auch nicht an einem Tag gebaut. Was wirst du danach machen, fragt sie. Das Gleiche wie bisher, sage ich: mir Arbeit suchen, die ich mag, ab und zu Marmelade kochen, an einen See fahren oder wilden Sex zu viert haben – mal gucken. Ich glaube nicht, dass sich mein Leben plötzlich ändert, wenn ich mit der Uni fertig bin. Ah, sagt sie, sehr optimistisch gedacht, nicht wahr? Ja, sage ich, so bin ich, und nebenbei hilft mir meine akademische Bildung dabei, mich in diversen Situationen jeweils angemessen auszudrücken, du paranoide kackverfickte Karrierehure.

Wer andere nach deren Lebensentwurf fragt und nicht bereit ist, eine Antwort zu hören, die ein „mal gucken“ enthält, ist bei mir raus. Am Samstag koche ich töpfeweise Marmelade und als ich sie in Gläser fülle, überlege ich, wem ich eins schenken werde. Ihr schon mal keins.

Die Rechtfertigungssache fällt weg, als ich mich abends mit einem Wiener Kollegen zum Betrinken treffe. Der erzählt, er habe sein Studium irgendwann auslaufen lassen, oder ausplätschern, ich weiß nicht, er benutzt einen soften Begriff, es klingt wie südfranzösische Landschaftsgärtnerei und nicht wie Abbrechen. Die Kneipe heißt „Luxus“, aber sieht nicht so aus. Als wir gehen, fragt Robert, wie ich nach Hause komme, und ich sage, Tram und U-Bahn, und er sagt, wir müssen Taxi fahren, und ich sage, nee, Tram und U-Bahn, ganz normal. Er sagt, ich fahr dich mit dem Taxi nach Hause, ist doch schick. Nee, sage ich, schick vielleicht, aber bekloppt, wenn du nach Mitte musst. Ich fahre mit ihm im Taxi zum Alex und dann mit der U8.

Am Sonntag gehe ich mit Stefan in ein Konzert von Sophie Hunger und Marianne Faithfull. Also nicht beide zusammen, sondern nacheinander, in der Spandauer Zitadelle, die ist etwa 3.000 Jahre alt, und ebenso alt ist Marianne, aber nur deswegen hat sie diese heiße Stimme. Sophie ist viel jünger, aber auch cooler als die Zitadelle und Marianne zusammen. Das Schlagzeug hämmert, die Band ist laut, aber ihre zarte Stimme füllt trotzdem das ganze Festivalgelände aus, und ich denke, Sophie, du bist wild und alles ist gut, ich liebe dich. Marianne dagegen ist eine Mischung aus einer englischen Literaturdozentin und einer heiseren Pommesbudenbesitzerin. Sie sagt zu jedem Lied, dass sie es lovely findet und dass es von oder für oder mit einem ihrer Kumpels Mick Jagger, Nick Cave oder Tom Waits geschrieben ist.

Später in einer Kneipe überlegen wir, ob nicht viel mehr Pommesbudenbesitzerinnen singen sollten. Sie müssten sich nur trauen. Am Ende fahre ich mit dem Taxi nach Hause und reiche die Quittung beim Arbeitgeber ein.